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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
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den sie allerdings nicht kennt – was ihr aber schon klar ist, da sie die fremden Motorengeräusche und Reifen auf der Straße gehört hat. Deshalb wird sie uns durch die gefärbte Fliegentür beobachten und uns vielleicht erst erkennen, wenn wir die Autotüren öffnen. Dann wird sie ihre Zurückhaltung ablegen, die große Vordertür weit aufreißen und fast im Laufschritt herunterkommen, um mich zu begrüßen. Ich war über eine Woche fort. Leah gehört der Free Company an. Manchmal fährt sie mit uns und arbeitet als Sanitäterin oder Fahrerin, aber sie sieht mir nicht gern zu, wenn ich einen Einsatz habe. Deshalb bleibt sie auch meist lieber zu Hause, nimmt Anrufe entgegen und plant die Versorgung. Wenn wir voneinander getrennt sind, zählen wir die Stunden. Wenn wir zusammen sind, tun wir das nie. Heute Abend werden wir etwas trinken und feiern, und dann werden wir ins Bett gehen, um uns zu umarmen und uns aneinander zu erfreuen.
    Die Lampe auf der Veranda brennt schon, weil es hier oben früh dunkelt. Wenn die Sonne hinter uns die Berge berührt, kriechen die Schatten aus dem Tal empor. Die Nacht setzt ein, als hätte man sich eine Augenbinde übergestreift. So etwas glaubt man nicht, wenn man nicht irgendwo gelebt hat, wo es so ähnlich abläuft. Die Dämmerung hängt sehr von den Reflexionen der umgebenden Landschaft ab. Hier gibt es keine nennenswerte Dämmerung, sondern nur ein staubiges Glimmen der Gipfel und den Geruch der Bäume in der Dunkelheit. Wir haben das Haus billig bekommen, weil es am Rand der Lebenszone liegt. Wenn man ins Tal hinabschaut, sieht man die Grenze und was hinter ihr liegt.
    Als die dankbaren Nationen – sie waren eher so etwas wie Stadtstaaten, hatten sich aber noch nicht damit abgefunden, wie klein sie geworden waren, und Jorgmund steckte noch in den Kinderschuhen – den Leuten Plätze zum Leben zur Verfügung stellen wollten, verteilten sie das Land nach einem komplizierten System mit Abzügen und Zuschlägen, bis jeder ein kleines Stück Land sein Eigen nennen konnte. Die Grundstücke in der Stadt waren besonders begehrt, und mit der Zuteilung konnte man gerade eben einen Anteil in einem neuen Wohnblock erwerben. Dank der Arbeit am Rohr bekam ich erhebliche Zuschläge, und wenn wir nicht ein Haus gebraucht hätten, in dem wir leben konnten, dann hätten wir uns ein Flugzeug oder einen Diamanten in der Größe meiner Faust kaufen können. Aber wir entschieden uns für das Haus.
    Wir sahen uns bei Tellacre Lofts um, einer Art Bohèmeviertel in der neuen Welt – ein lang gestrecktes Durcheinander, scheinbar willkürlich gewachsen und verschachtelt. Es war dazu gebaut, den Menschen auf wenig Raum ein Zuhause zu bieten. Die Angebote von Tellacre lagen üblicherweise am Rand der Stadt, aber noch deutlich innerhalb der Lebenszone und galten deshalb als sichere, angenehme Wohngegend. Wir gingen um einen Wohnblock herum – langweilig grau und mit einer Lifestyle-Einrichtung (allerdings habe ich keine Ahnung, was das ist). Cremefarbene Ledersofas gehörten jedenfalls dazu, und man musste genau hinsehen, um die Nähte zu entdecken, mit denen jemand viele kleine Schaffelle aus dem Kriegsgebiet zusammengestückelt hatte. Es gab eine Einbauküche und einen kleinen Balkon, der New Paris überblickte (unter heftigem Widerstand der Franzosen von einer Firma gebaut, die einmal auf Grand Cayman residiert hatte), versenkte Lampen und eine Massagedusche. Alles passte zusammen, die Linienführung wirkte kühl und elegant. Es war wirklich ein schönes Appartement. Leah weinte, als wir ins Auto stiegen. Sie hasste es so sehr, dass sie sich kaum noch bewegen konnte. Sie hatte sich am ganzen Körper verkrampft und ihre Hand auf meine Hand gelegt, als ich den Schalthebel bediente. Die Wohnung war böse und öde. Für sie wäre es ein Sarg gewesen. Sie hasste jeden, der ihr sagte, es sei eine schöne Wohnung, und wollte das Haus niederbrennen und ihnen die verdammte Couch in den Hals stopfen.
    Ich versprach ihr, dass wir nie an einem solchen Ort leben würden, und sagte dem Makler, wir würden uns wieder melden. Er drängte mich, mich zu beeilen. Ich wartete eine halbe Stunde, rief ihn an und erklärte ihm, wir hätten etwas Besseres gefunden. Das sagte ich im Brustton der Überzeugung, woraufhin er heftig erschrak und sich fragte, wohin ich wollte und wie er auch dorthin käme. Dann legte ich auf, hielt meine schaudernde Frau fest und dachte darüber nach, was ich jetzt tun sollte.
    Wir lebten auf

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