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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
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zweite Hälfte des Tricks hat er vergessen.
    Damit öffnet er das Taschentuch und lässt einen kleinen Strom von Sand, Zahnrädern und Glassplittern in seine offene Hand rieseln.
    Jetzt breitet sich eine tiefe Stille aus. Natürlich ist es kein entsetztes Schweigen, auch wenn es sich allmählich in diese Richtung entwickelt. Vor allem ist es ein erwartungsvolles Schweigen: Bring das in Ordnung, sagt Ikes Publikum. Das war witzig, aber jetzt bekommen wir Angst, also bring das wieder in Ordnung. Ike Thermite tritt vor und flüstert dem Doktor aufgeregt etwas ins Ohr. Offenbar stellt er ihm ein Ultimatum, und Dr. Andromas sieht sich um, ob irgendwo Rettung naht. Die Pantomimen ziehen sich von ihm zurück. Er ist jetzt allein mitten auf der Bühne, wickelt die Stücke der Uhr verdrossen wieder ein und macht ein paar beschwörende Gesten. Nichts geschieht. Die Mimen zerlegen schweigend das Bühnenbild. Sie tragen die Alpen und Loch Ness und alles andere fort, und dann gehen alle Lichter aus – bis auf den einen Scheinwerfer, der Dr. Andromas anstrahlt wie den Angeklagten im Zeugenstand. Endlich sinkt er weinend auf die Knie. Es ist offenbar eine ganz andere Vorstellung geworden, als alle glaubten. Einerseits wird offensichtlich, dass Dr. Andromas nicht weiß, wie er alles wieder zusammensetzen soll, andererseits aber ist völlig unklar, ob sich dies auf die Uhr oder die Welt bezieht. Und ob zwischen beiden überhaupt ein Unterschied besteht. Ein eingeschüchtertes, schreckliches Schweigen legt sich über die Einwohner von Rheingold. Eine stämmige Matrone schnieft sogar, und irgendwo murmeln Männer. Dr. Andromas verkörpert eine entsetzliche Wahrheit. Verzweifelt reibt Andromas an seinem Schnurrbart, bis er herabhängt. Er reißt die Mädchenaugen weit auf, eine einsame Träne rollt seine Wange hinab.
    Als Dr. Andromas dann aufs Gesicht fällt und sein Hut herabgesegelt und nicht etwa den kahlen Schädel entblößt, mit dem ich gerechnet hatte, sondern einen Urwald von glücklicherweise kurz geschorenen Haaren, gibt das Kaninchen seinen gemütlichen Sitzplatz auf und hoppelt auf die Bühne. Und natürlich trägt es eine Uhr um den Hals. Ja, genau diese Uhr. Das Licht geht wieder an, die Pantomimen sitzen inzwischen mitten im Publikum, und vor dem gestreiften Stoff des Zirkuszelts, der jetzt zurückgezogen wird, ist die Kulisse wieder aufgebaut. Die alte Welt vermischt sich in einem einzigen großen Panoramabild mit der neuen: der Wasserfall von Alicetown, die Westery Mountains, wo das verbliebene Wasser eines großen Sees oder Binnenmeeres über eine Klippe auf etwas hinabstürzt, das vielleicht einmal der Indische Ozean war. Die ersten Wunder des Zeitalters. Die Menge gibt ihrer Erleichterung und ihrem Entzücken Ausdruck. Ein Lärm, als donnere es. Helles Licht, Freude.
    In diesem Augenblick geschieht etwas mit mir. Die Kette geistiger Dominosteine ist sehr einfach, die Ergebnisse sind es nicht. Komplexität entsteht aus einfachen Zutaten – das nennt man Chaos. Der Begriff passt gut. Ich versinke im Chaos. Die Frau vor mir klatscht begeistert und jubelt. Sie bewegt den Kopf. Ihren hübschen Pferdeschwanz hat sie mit etwas Spitze zusammengebunden, von ihm steigt ein süßer Duft von Jasmin auf und umhüllt mich. Jasmin. Und Spitze. Leah in der Kirche von Cricklewood Cove. Und direkt danach. Leah mit Gonzo. Kordit, Schmerzen, Asphalt.
    In meinem Kopf stürzen die Wände ein. Man hat mich verraten, ermordet, gerettet, geheilt und beraubt. Ich habe die Welt gerettet, zur Belohnung fünf Schüsse in die Brust bekommen und wurde auf einer staubigen Straße im Nirgendwo ausgesetzt. Ich bin Giftmüll. Ich habe den Himmel gesehen, bin in der Hölle, und hier sind Pantomimen. Wenn es eines gibt, das ich tun will, ehe ich wahrhaftig sterbe, dann dies: Ich werde Gonzo Lubitsch finden und den Grund erfahren. Ich werde nach dem Wann fragen und hören, ob sie sich schuldig fühlen oder mich ausgelacht haben. Ich werde ihn zwingen, mir alles zu erzählen. Ich werde sie beide dazu zwingen. Gonzo und sie. Sie und Gonzo. Ich werde mit dem Wind reiten und wie ein Sturm über sie kommen und sie zwingen, mir zu antworten. Beinahe kreische ich, in meinen Augen lodern die Kraft und die Hitze. Ich hülle mich in brodelnde Schatten. Die Welt muss darauf reagieren und meiner Wut eine körperliche Gestalt geben, bis die Säure von meiner Haut tröpfelt. Der Mann, der neben mir sitzt, nimmt es bemerkenswert gelassen.
    Ich werde mich rächen.

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