Die gelöschte Welt
mir ohne Schnurrbart vorzustellen, und bin sicher, dass ich ihn nicht kenne.
Dr. Andromas stellt sich selbst vor (eine großartige Geste unter einem Banner, das mit wichtigen Buchstaben seinen Namen trägt), und die Mimen stützen sich ringsherum auf verschiedene Dinge und kichern lautlos. Er stakst steif umher, verliert den Hut, findet ihn wieder und zieht rasch nacheinander zwei Möhren und ein angenagtes Salatblatt heraus. Er denkt darüber nach und ist offenbar nicht sicher, woher das Gemüse gekommen ist. So lässt er den Hut hinter sich auf dem Tisch liegen, während er sich auf der anderen Seite der Bühne mit einem Mimen berät. Inzwischen hüpft ein Kaninchen aus dem Hut und macht sich über die Möhren her. Das Publikum ist außer Rand und Band. Andromas dreht sich um, das Kaninchen flitzt zum Hut. Er springt, verfehlt es jedoch und stößt beide Arme in den Zylinder, um drei Meter orangefarbene Seide, eine Saugglocke und das wohlgeformte Bein einer jungen Frau herauszuziehen. Letzteres wird abrupt zurückgezogen, dann taucht ein schlanker Arm auf und versetzt ihm eine Ohrfeige. Er zuckt und setzt sich voller Panik den Hut wieder auf den Kopf. Gleich darauf seufzt er und nimmt ihn ab. Das Kaninchen ist wieder da.
Jetzt legt Dr. Andromas noch einen Zahn zu. Er übergibt das Kaninchen einer sehr jungen Einwohnerin von Rheingold, die es ängstlich annimmt. Doch das Kaninchen macht es sich auf ihrem Schoß bequem und schläft ein. Dr. Andromas bittet unterdessen die Gentlemen von Rheingold um einen einfachen Gefallen: Ob man ihm eine Armbanduhr zur Verfügung stellen könnte? (Die Bitte um die Uhr erfordert sehr viel präzises Gestikulieren und die Nachahmung von Zahnrädern. So entsteht der deutliche Eindruck, dass der aufgeblasene Dr. Andromas glaubt, er habe es mit Schwachsinnigen zu tun, die die Sprache eines Pantomimen nicht verstehen, wie es jeder vernünftige Mensch vermag.) Die Einwohner von Rheingold erkennen sofort, dass sie aufgefordert sind, diese Person nicht zu mögen. Sie lachen über sein geckenhaftes Betragen und seine angeschlagene Würde, und Andromas brüstet sich und meint, alles liege an seinem großen komischen Talent. Es ist ein Vertrag, und jeder ist gern bereit, die ihm zugewiesene Rolle zu spielen. So ist das Publikum perfekt auf den Trick vorbereitet. Dieser Trick folgt einem vorhersehbaren Ablauf. Dr. Andromas nimmt die Uhr entgegen und wickelt sie sicherheitshalber in ein grünes Taschentuch ein. Dann winkt er liebenswürdig und beruhigend und schlägt mehrmals mit einem hölzernen Schlegel auf das kleine grüne Bündel. Ein paar Hundert Leute kichern und keuchen. Der Besitzer der Uhr zuckt zusammen, lächelt ergeben und wünscht, er wäre woanders. Seine Frau hält sich nervös, aber ebenso nachsichtig an seinem Arm fest. Jeder weiß, dass alles gut gehen wird. Doch dann breitet sich im stark geschminkten Gesicht des Doktors Entsetzen aus. Er blickt ins Taschentuch, schüttelt es, und es klimpert, was in dieser Situation ein wenig beunruhigend wirkt. Ein einsames Rädchen fällt heraus und kullert über den Tisch. Dr. Andromas erstarrt. Beschwörend hebt er eine Hand und lässt sie sinken, schüttelt erneut das Taschentuch. Es klimpert. Nun setzt er ein verlegenes Grinsen auf, eilt zum Rand der Bühne und spricht aufgeregt mit einem Pantomimen, der jedoch mit den Achseln zuckt. Weitere Schauspieler werden hinzugezogen, die Diskussion wird lebhafter. Schließlich kommt auch Ike Thermite dazu und stellt sehr überzeugend sein Entsetzen dar, als er von dem Problem erfährt. Zornig trägt Ike einem Mimen auf, Andromas eine kräftige Tracht Prügel zu verabreichen. Die Einwohner von Rheingold johlen und kichern. Dr. Andromas flieht zum vorderen Rand der Bühne.
Er verzieht das Gesicht – einschließlich des unmöglichen Barts – zu einem Ausdruck tiefsten Bedauerns. Dann klatscht er in die Hände. Er fleht die Einwohner von Rheingold allgemein und ganz besonders den Besitzer der vorübergehend zerstörten Armbanduhr an, Gnade walten zu lassen. Anschließend deutet er zum Tisch, zum Kaninchen und auf all die schönen Dinge, die er vorgeführt hat. Er bittet das Publikum um Verständnis, dass ihm in all den Jahren seiner Laufbahn noch nie ein solcher Fehler unterlaufen sei. Heute aber habe er den ersten Anflug von Senilität erlebt. Er hat einen schrecklichen Fehler gemacht. Vielleicht wird er sich morgen, wenn der Druck nachgelassen hat, wieder erholen. Im Augenblick aber … die
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