Die gelöschte Welt
Ich werde Vergeltung üben, o ja. Das werde ich tun.
Ich will aufspringen, ich will hinauslaufen und einen Truck oder Bus stehlen, ich will davonrasen und sie hetzen. Ich will quer durch die Welt reisen, wenn es sein muss. Ich werde ewig so weitermachen, ich bin unbezwingbar. Sie haben mich verraten. Ich bin die Nemesis und werde ihre Welt verwüsten. Jeden Augenblick werde ich jetzt beginnen. Gleich.
Nur dass ich am Ende dieses Weges ein bestimmtes Ergebnis erkenne. Diese Straße hat ihre eigene Logik – einen gewalttätigen, unwiderstehlichen Sog, der zu einer furchtbaren Abrechnung führt. Wenn ich Gonzo jage, dann muss ich ihn auch fangen. Wenn ich ihn fange, dann werde ich ihn zur Rede stellen müssen. Es wird mit Sicherheit ein High Noon werden. Wir werden kämpfen. Es wird erst enden, wenn einer von uns tot ist. Vielleicht muss ich auch Leah töten. Aber dies sind nicht meine Schritte, denn Gonzo ist hier der Mann der Tat. Gonzo ist derjenige, der sich kopfüber in etwas hineinstürzt. Er übernimmt die Führung, schwingt sich in den Sattel und macht keine Gefangenen.
Ich bin nicht Gonzo Lubitsch.
Als ich mich endlich wieder bewegen kann und aus dem Zirkuszelt in die Dunkelheit fliehe, stehle ich nicht Ks Bus und rase auch nicht wie ein Wilder davon, um irgendeinem bösen Ende entgegenzugehen. Ich wandere vielmehr mit brennendem Herzen in die Nacht hinaus und tue etwas, das Gonzo Lubitsch meines Wissens in seinem ganzen Leben noch nicht getan hat.
Ich denke nach.
12 Der Rat eines weisen Mannes • Jim und Sally beim Spielen • Crazy Joe Spork und der Sandkasten der Wahrheit
Ronnie Cheung war ein eigenartiger Mentor. Man könnte durchaus erwarten, dass mir Meister Wu oder der alte Lubitsch erschienen wären, als ich halluzinierend im Dunkeln vor dem Zirkuszelt in Rheingold stand. Wäre mir daran gelegen gewesen, einen spirituellen Führer zu erwählen, so hätte ich mich wohl kaum für Ronnie entschieden. Andererseits neigte irgendein Teil in mir offenbar doch zu Ronnie, da ich letzten Endes mit ihm sprach. Natürlich nicht mit dem echten, lebendigen Mann – wie es heißt, hat er zwar den Krieg überlebt, aber ich habe überhaupt keine Ahnung, wo er steckt. Nein, ich rede mit einer Art Geist.
Jeder Mensch trägt eine Vielzahl von Geistern mit sich herum: Die Eindrücke, die andere Menschen hinterlassen haben, ob stark oder schwach, ob nach langer Bekanntschaft oder in Folge einer oberflächlichen Begegnung. Diese Geister sind wie Landkarten, die bei jeder Begegnung aktualisiert werden und neue Details bekommen. Wir beurteilen sie und entwickeln Zuneigungen und Abneigungen. Wenn man einen Philosophen fragt, dann stellen sie alles dar, was wir in der realen Welt jemals über einen Menschen erfahren können. Normalerweise ist es nicht sinnvoll, Philosophen zu befragen. Sie haben eine Angewohnheit, die in der persischen Sprache sanud genannt wird – die ziellose Betrachtung beunruhigender, im Grunde aber doch bedeutungsloser Dinge. Wie dem auch sei, Meister Wu und der alte Lubitsch sind – selbst in tragbarer Form – viel zu weise für diesen Augenblick. Es gibt eine Ebene der Erleuchtung, auf der es zu schmerzlich ist, sich zu seinen Fehlern zu bekennen. Vor einem dieser Ältesten zuzugeben, dass ich in meinem Leben versagt habe, völlig unfähig war und nur wenige Stunden nachdem ich bei der Rettung der Welt mitgewirkt hatte als betrogener Ehemann dastand und erschossen wurde, wäre zu viel. Würden sie mir verzeihen, so würde dies nur eine weitere Wunde aufreißen.
Ronnie Cheung dagegen kennt sich mit Fehlschlägen aus. Seine Ratschläge sind gröber und werden mit der Zurückhaltung eines Mannes gesprochen, der selbst genügend Misserfolge erlebt hat und die Scham und die Schuld des Opfers und alles andere genau kennt. Ronnie Cheung ist genau die Sorte Buddha, die man in einer Bar treffen könnte, wo er einem die Seele rettet und einen dann am Pooltisch gnadenlos ausnimmt. Er ist die Sorte Heiliger, die einem jederzeit einen Kabeljau auf den Kopf schlägt, wenn das nötig ist, damit man wieder in die richtige Spur kommt. Mein Unterbewusstsein wählt ihn, also marschiert mir Ronnies Geist, den mein Kopf erzeugt hat, entgegen, hört sich die Geschichte an und gibt mir einen Ratschlag.
Es ist eine kühle Nacht. Ein unentschlossener Mond hängt über dem Zirkuszelt, durch dessen Segeltuchwände zustimmendes, beifälliges Gemurmel nach außen dringt. Ich setze mich auf einen Baumstumpf,
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