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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
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verdeutlichen. Es war nie mein Haus, deshalb kann es hier auch keine falschen Erinnerungen geben. Beweismittel: Die Leute, die hier lebten, hatten keine Kinder. Hier gibt es keine Bleistiftmarken am Türrahmen der Küche, keine zerrissenen Teppiche und keine abgekratzte Farbe. Hier gibt es kein Zimmer, das meines hätte sein können. Kein Etagenbett, kein unordentliches, schmutziges Schlafzimmer, in dem ich als Heranwachsender schmollte und schwitzte. Die Bilder der Bewohner zeigen außerdem gar nicht meine Eltern. Die Namen auf den alten Briefen, die ich in einer Blechkiste finde, kenne ich auch nicht. Dieses Haus hat eine Geschichte, die nicht die meine ist.
    Es schnürt mir die Brust zusammen, meine Augen brennen und fühlen sich an, als wären Sandkörnchen hineingeraten. Ich spüre sogar meinen Puls in den Augäpfeln und frage mich, ob sie platzen werden. Schließlich drehe ich mich um mich selbst, oder vielleicht dreht sich auch das Haus oder die Welt. Habe ich mir ein Leben erträumt? Habe ich etwa alles nur erfunden? Ja. Ja! Das muss es sein. Mein reales Leben war so langweilig oder schrecklich, dass ich mir einfach ein neues ausgedacht habe. Ich habe den Verstand verloren. Schwankend stehe ich auf dem Treppenabsatz und weine. Meine Mutter – existierte sie denn – würde mich ermahnen, vorsichtig zu sein, und wenn sie damit meinen entsetzlichen Kummer nicht durchdringen könnte, würde sie sich unter mir auf die dritte Stufe setzen und mich in die Arme nehmen, damit ich nicht stürze. Ich habe keine Mutter. Die Stufe ist leer. Wie das Haus. Wie alle Orte, zu denen ich gehe. Gonzo Lubitsch, ich glaube, ich hasse dich.
    Ich brülle wortlos, bis auch meine Lungen leer sind. Dann lache ich, ein lautes, verstörendes Geräusch, das mir aber irgendwie wieder Mut macht, und dann lache ich noch lauter. Am Ende weine ich – und Lachen und Weinen werden eins. Man muss schon ziemlich neben der Spur sein, um in ein Haus einzubrechen und dann im Zwielicht zu schluchzen und zu heulen. Irre? Ich denke darüber nach. Ja! Das würde alles erklären. Mein alternatives Leben entfaltet sich vor mir. Achte auf den Irren! Er heißt Crazy Joe Spork, ein Kesselflicker und Vagabund auf den freien Straßen! Crazy Joe diente einstmals brav seinem Land, aber dann wagte er sich ein wenig zu weit in die Dunkelheit vor und hat jetzt nicht mehr alle Tassen im Schrank, daher sein Beiname, jetzt sieht er alle Autoritätspersonen mit Kürbissen anstelle von Köpfen. Crazy Joe wurde aus der Armee entlassen, weil er seine rauen Beine mit dem Toupet eines Offiziers abwusch (während es noch mit dem Besitzer verbunden war). Leider ist er aufgrund dieser Störung auch für das zivile Leben nicht mehr geeignet. Nach einigen unglücklichen Zwischenfällen wurde er zum Trinker und landete im Gefängnis. Seine Medaillen waren vergessen – genauer gesagt, er verkaufte sie, um billigen Fusel zu erstehen. Als er vor Kurzem an der Wand der Pumpstation schlief, wo er jetzt lebt (der Luftzug der Klimaanlage wärmt ihn, und die Soldaten schützen ihn vor Pumas), hörte er ein großes Getöse und forschte dem vermeintlichen Dieb nach, der sich mit seinem Fusel davonmachen wollte. Aber nein! In dieser Nacht wurden noch schlimmere Verbrechen verübt, und so kam ein Bruchteil des ehemaligen hoch dekorierten Veteranen wieder zum Vorschein. Er zwängte sich durch das zerstörte Tor und fand eine Gruppe von Helden vor, die für die Rettung der Welt kühn kämpften, nachdem ein feiger Bandit sie in Gefahr gebracht hatte! Joe ist keine Memme, obwohl er völlig durcheinander ist, und so führte er sie zu einem großen Sieg. Während er sich mit breiten Schultern dem Feind entgegenstemmte, ersann sein verräterisches, ramponiertes Hirn jedoch ganz von selbst eine lange, glorreiche Geschichte, die ihn angeblich mit seinen neuen Gefährten verband. Diese Fantasie trieb ihn leider auch in einen Konflikt mit dem Mann, dessen Frau er unversehens als die seine betrachtet hat. So wurde Crazy Joe Spork in Notwehr erschossen und mit Recht aus einem fahrenden Auto gestoßen, als er mordlustig auf seinen Rivalen losging. Verletzt, aber zu zäh, um zu sterben, streifte er durch die Welt und erreichte schließlich dieses alte Haus, zu dem er doch keinerlei Verbindung hat, wenn man von den wilden Visionen seiner eingebildeten Welt absieht. Auf dieses Haus projizierte er jedoch eine Kindheit, die teils idyllisch, teils aber auch von Vernachlässigung geprägt war, und erfand sich

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