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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
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spähen. Gonzos Vater erklärte seinem Sohn, er solle ohne Vorbehalte und Verlegenheit trauern, bis er schließlich feierlich und innerlich trauern könne. Und dann solle er die Tränen zurückhalten und nur noch gelegentlich weinen, wie es sich für einen herzensguten Mann gehört. Kummer muss man nicht unterdrücken, und man muss sich auch nicht dafür schämen, erklärte er Gonzo. Aber man soll sich auch nicht daran festhalten. Fühle ihn, erlebe ihn, und lass ihn hinter dir zurück. Es ist eben, wie es ist, aber das ist nicht das Ende. Der alte Lubitsch brachte es kaum über sich, die letzten Worte laut auszusprechen.
    Gonzo dachte darüber nach und verkündete, er würde gern einiges in Erfahrung bringen, wolle aber keine albernen oder unpassenden Fragen stellen und wisse nicht einmal, welche Fragen dumm seien. Darauf erwiderte der alte Lubitsch, es gebe keine Fragen, die Gonzo seinem Vater in diesem Augenblick nicht stellen dürfe. So befreite sich Gonzo in keiner bestimmten Reihenfolge von allem, was ihn bedrückte: Warum hat jemand Marcus getötet? Würden sie jetzt auch Gonzo töten? Wie konnte Gonzo ohne Marcus die Spiele spielen, die sie zusammen gespielt hatten? Durfte Gonzo jetzt Marcus' riesigen Hut mit dem aufgesetzten Geweih tragen? Sollte Gonzo sich darauf konzentrieren, möglichst schnell diejenigen auszurotten, die durch Taten, Zufälle oder Unterlassung für Marcus' Tod verantwortlich waren? Und wenn, müsste er dann trotzdem noch seine Hausaufgaben machen? Wer würde mit Gonzo zur Schule gehen? Würde Ma Lubitsch ihm einen neuen Bruder machen? Und könnte es bitte keine Schwester sein? Wie ging es Ma überhaupt? Hat ihr das, was mit Marcus passiert ist, sehr wehgetan? War es eigentlich Gonzos Schuld? Liebten Gonzos Eltern ihn trotzdem noch, auch wenn es sich so verhielt? Würde es zum Abendessen wieder Kuchen geben? War Marcus jetzt im Himmel, wie die Evangelistin behauptete, oder spukte er möglicherweise im Haus der Lubitschs, und würde er sie bis in alle Ewigkeit heimsuchen? Hatte Marcus, wie er es einmal angedeutet hatte, für Gonzo einen kleinen Hund gekauft, und würde der Hund noch ankommen, oder war das jetzt durch seinen Tod erledigt? Wie ging es Gonzos Vater?
    Der alte Lubitsch meinte, dies seien überwiegend doch sehr gute Fragen. Er antwortete ausführlich und mit beachtlicher Geduld und Genauigkeit. So kam heraus, dass Gonzo, der jüngere Sohn, durchaus Kuchen bekommen würde; er sei auch nicht verantwortlich; er müsse tatsächlich weiter zur Schule gehen; er würde keinen weiteren Bruder und leider auch keinen Hund bekommen. Aber das Gute sei, dass er nicht Gefahr liefe, erschossen zu werden; er müsse sein Leben nicht darauf verwenden, schreckliche Rache zu üben; er könne Marcus' Hut haben. Die Frage nach dem Warum verschob der alte Lubitsch auf einen anderen Tag (ebenso wie die Diskussion über Schmerzen und Sterblichkeit, die er im Augenblick zu führen sich außerstande sehe, denn er sei sich nicht sicher und wolle nicht über Marcus' Gefühle im Augenblick seines Todes spekulieren). Diese guten Antworten ergänzte er durch die Bemerkung, dass niemand Marcus je würde ersetzen können. Und es solle auch niemand versuchen, es zu tun, aber Gonzo müsse eingedenk dieser Tatsache genau wie sie alle versuchen, neue Freunde zu finden.
    Gonzo starrt den Sandkasten an. Er ist eine Wüste. Niemand ist hier, mit dem er spielen möchte. Wenn er keinen Freund findet, wird er bald wieder weinen. Seine Trauer wird ihn wieder einholen. Sie belauert ihn und springt ihn in müßigen Augenblicken an. Gonzo hat aufgedunsene Wangen und wunde rote Augen. Eilig befolgt er den Rat seines Vaters.
    Er macht sich einen neuen Freund.
    Es ist natürlich ein Junge in seinem Alter. Kleiner als er, aber ebenso einsam. Jemand, mit dem er seine Bürde teilen kann, und der von einer schrecklichen Traurigkeit erfüllt ist, wie es Kinder eben manchmal sind, aus keinem bestimmten Grund. So vorsichtig, wie Marcus es hin und wieder von Gonzo verlangt hat, was jedoch in eigenartigem Widerspruch zu seinem eigenen kühnen (sorglosen?) Schicksal steht. Jemand, der auf Gonzo aufpasst. Wir fangen an zu spielen, und dabei kommt heraus, dass ich zwar nicht ganz so gut bin wie er, aber doch gut genug, um eine Herausforderung zu sein. Eigentlich definiert mich dies weitgehend: Auf allen Gebieten, auf denen Gonzo sich auszeichnen will, liege ich gerade weit genug hinter ihm, um ihn anzuspornen. In den Bereichen, die er

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