Die gelöschte Welt
öffnet sich.
Die Haustür ist schwarz lackiert, glänzend wie Gusseisen. Der Schlüssel ist, wo er sein sollte – unter der Statue der Göttin Diana, die für Cricklewood Cove eine Spur zu rassig ist. Das erkenne ich erst jetzt, wenn ich sie als Erwachsener betrachte: eine Brust ist entblößt, eine sehr kurze Toga bedeckt gerade noch die Hüften, während sie läuft.
Ich sperre auf, drinnen ist es still. Immer muss ich rufen, um die Leute auf mich aufmerksam zu machen. Allerdings habe ich auch Erinnerungen, dass sie dort manchmal auf mich warteten. Nun ja, davon kann ich in diesem Fall wohl kaum ausgehen.
»Hallo! Ich bin wieder da! Ich bin's, hallo!« Die Worte breiten sich zwischen Holz und Farbe aus.
Niemand zu Hause. Das Haus ist leer. Es riecht auch leer, nach altem Stoff, nach Harz, das aus ererbten Möbeln quillt, nach Staub. Ich wandere den Flur hinunter und bekomme das Gefühl, die Wände rückten rings um mich zusammen. Aber das ist eine kindliche Perspektive. Natürlich schrumpft der Flur nicht. Ich bin einfach größer geworden. Der Flur war ein Raum für Erwachsene – öffnen, wenn jemand schellt, Post in Empfang nehmen, exotische Gäste begrüßen (wenn ich jetzt darüber nachdenke, fällt mir auf, dass ich nie wusste, wer sie waren). Dort wurde ich jeden Morgen in Gonzos Obhut übergeben und später oder am folgenden Tag wieder von ihm abgeliefert. Als ich in Jarndice war, sah ich meine Eltern kaum noch. Ich benutzte den Schlüssel für die Hintertür und führte mein eigenes, unabhängiges Leben. In der Zwischenzeit haben wir uns aus irgendeinem Grund nie mehr unterhalten. Es gab keinen Bruch, einfach nur Entfremdung und den Lauf der Zeit. Ich weiß, dass sie den Krieg überlebt haben, denn das hörte ich, glaube ich, irgendwo. Oder vielleicht wird mir auch nur bewusst, dass ich nie getrauert habe – und ich schließe daraus, dass sie immer noch leben.
Das Gletscherzimmer hat riesige Fenster und beherbergt einen gewaltigen Ohrensessel, fast schon einen Thron. Ich ziehe die Schutzhülle ab und betrachte ihn. In meiner Erinnerung hatte er eine andere Farbe, als hätte ich ihn im goldenen Licht der Abenddämmerung gesehen. Die Seiten und der Rücken des Sessels sind im Licht gebleicht. Der Raum ist voller Geister. Geisterbeine. Geistercocktails. Geisterpartys. Welche Partys? Ich ziehe einige weitere Schutzhüllen ab. Die anderen Möbel erkenne ich nicht wieder, nur diesen Sessel, der vom Fenster aus sichtbar ist. Habe ich einmal eine Kopfverletzung erlitten und mein Leben in diesem Haus vergessen? In der hinteren Wand gibt es eine Tür, die in das Zimmer meines Vaters führt, zu den Geheimnissen der Männlichkeit. Werde ich ihn dort finden, mit einer zu Pergament vertrockneten Haut, schon seit vielen Jahren tot? Oder liebt er gerade leidenschaftlich seine neue Frau? Habe ich deshalb so lange nichts von ihnen gehört? Vorsichtig öffne ich die Tür zum vertäfelten Nebenzimmer und bereite mich darauf vor, zwei Stufen hinabzusteigen, weil das Zimmer tiefer ausgehoben wurde, damit es etwas Abgeschiedenheit bietet und in den gelegentlichen Kälteperioden dieser Gegend warm bleibt.
Hinter der Tür steht jedoch ein leerer, kalter Schrank. Nur die Tür ist mir vertraut – groß, verziert und falsch.
Bestürzt wandere ich durch die Küche zur hinteren, offenen Kellertür, die zu meinem alten Zimmer hinabführt, wo mich Theresa Hollow am Abend des großen Sieges über den Kannibalenhund liebte. Die schmale Treppe führt jedoch aufwärts und nicht abwärts. Oben entdecke ich eine Art grässliches Boudoir voller Trophäen einer alten Dame.
Dieses Haus kenne ich nicht.
Das wird immer deutlicher – schmerzhaft deutlich –, während ich es weiter erforsche. Ich kenne es so, wie es ein Fremder kennen würde, ein zufälliger Besucher oder ein neugieriges Kind. Ich kenne es von draußen und erinnere mich an die öffentlichen Bereiche und die Räume, die von draußen einzusehen waren. Vielleicht habe ich mal hineingeschaut, aber bewohnt habe ich es nie. Dennoch erinnere ich mich, dass sich hinter dieser Tür einst mein Haus befand. In meinem Zuhause mit Leah war die Veränderung ein Beweis für Untreue und einen schrecklichen Betrug. Aber dies trifft hier nicht zu. So erfolgreich er auch sein mag, es ist nicht vorstellbar, dass Gonzo auch meine Eltern verführt hat. Sie haben sich nicht von mir scheiden lassen und sich dafür mit ihm eingelassen. Sie haben nicht das Haus umgestaltet, um mir das zu
Weitere Kostenlose Bücher