Die gelöschte Welt
hervorstehenden Gelenke hinterlassen haben. Die Arena ist bereit. Doch ihm fehlt ein Gegner. Im Sand kann Gonzo seine Bataillone einzeichnen und das Gelände formen. Er kann die Welt so gestalten, wie er sie haben will. Dagegen ist es ihm nicht möglich, das fehlende Element zu ersetzen. Er lässt die Schultern hängen und macht ein trauriges Gesicht. Große Brüder dürfen keine Unfälle haben.
Vor zwei Wochen bekamen sie die Nachricht, am Freitag war die Beerdigung. Marcus Lubitsch ist tot. Soldat geworden, in einem trockenen Land gefallen, eine halbe Meile entfernt in allen Ehren und im Geruch von Schießpulver von seinen Freunden zur letzten Ruhe gebettet. Im Rauch tränten Gonzos Augen, und als die Salutschüsse knallten, zuckte er zusammen. Deshalb hat er jetzt Schuldgefühle. Marcus ist nie zusammengezuckt. Nicht einmal bei dem Schuss, der ihn tötete. Irgendwie hat Gonzo das Gefühl, Marcus wäre vielleicht doch noch lebendig zurückgekommen, wäre er netter zu ihm gewesen. Am Mittwochnachmittag versuchte er, dies seiner Mutter zu sagen, doch sie schrie ihn an, er solle den Mund halten. Dann entschuldigte sie sich bei ihm (was sie noch nie getan hatte) und schloss ihn in ihre gewaltigen Arme. Er sah sich von ihrem Schaudern umfangen. Gonzos Tränen gingen in der Flutwelle seiner Mutter völlig unter: Sein lautestes Heulen war nichts im Vergleich zu dem ihren.
Marcus Maximus Lubitsch, auf die Erde gekommener Gott, Gefährte und Lücke in der Landschaft – Gonzo will ihn instinktiv neu erschaffen. Immer denkt er an Marcus und die Dinge, die sie zusammen getan haben. Er hört noch die Stimme seines Bruders und weiß in allen denkbaren Situationen ungefähr, was Marcus sagen und tun würde. So kann er noch mit Marcus spielen, obwohl er weiß, dass er ihn nie wiedersehen wird. Er kann mit seinem Bruder über den Verlust sprechen und hört, wie dieser ihm versichert, bald werde alles wieder in Ordnung sein. Er schmeckt die Eiscreme brüderlicher Bestechung. Verzweifelt sträubt er sich gegen die Wahrheit.
Aber zugleich lernt Gonzo auch, dass es in der Welt Dinge gibt, die nicht zu ihm gehören. Er bekommt das Gefühl, es sei falsch, weiter mit Marcus zu spielen. Als sein Bruder beerdigt wurde, waren gewisse Dinge auf einmal nicht mehr in Ordnung, die vorher absolut okay gewesen waren. Beispielsweise hatte Gonzo zwei Tage vor der Nachricht eine Teeparty veranstaltet, an der unter anderem zwei Außerirdische, eine sprechende Maus namens Clarissa und Marcus in seinem Panzer teilgenommen hatten (alle Soldaten haben Panzer und fahren mit ihnen überallhin), außerdem drei ehemalige Könige von Schottland in verschiedenen Stadien der Enthauptung. Daran war gar nichts Eigenartiges oder Unpassendes gewesen. Seine Mutter hatte für alle Kuchen gebacken, aber darauf bestanden, dass die Maus, die Außerirdischen und die Könige magischen, unsichtbaren Kuchen essen müssten, während sich Gonzo und Marcus das einzige sichtbare Stück teilen sollten. Marcus erklärte jedoch, er sei nicht hungrig, und Gonzo konnte das Stück allein verdrücken.
Seit die Nachricht eintraf, ist so etwas nicht mehr möglich. Vor seinem Tod war Marcus durchaus fähig, an mehreren Orten zugleich zu sein, aber nach seinem Tod kam das nicht mehr infrage. Gonzo – dem die Worte fehlen, um seine Gefühle richtig auszudrücken – glaubt, dies liege daran, dass der lebende Marcus bei seinen Besuchen über das, was er und Gonzo während seiner Abwesenheit unternommen hatten, leicht auf den neuesten Stand gebracht werden konnte. Der tote Marcus ist dagegen festgelegt und nicht mehr veränderbar. Er kann nicht über die in Abwesenheit gemachten Erfahrungen informiert werden. Deshalb stellen solche Erlebnisse eine Art Diebstahl oder einen Trick dar. Wenn Gonzo jetzt so tut, als sei Marcus immer noch bei ihm, dann verleugnet er dessen Tod und damit auch den Wert seines Lebens. Wenn er der Versuchung widersteht, sieht sich Gonzo gleich zweifach beraubt.
Doch er weiß sich zu helfen. Nachdem die Nachricht eingetroffen war und alle weinten – eine schreckliche Szene –, fand ein Gespräch statt. Der alte Lubitsch nahm Gonzo auf einen langen Spaziergang mit. Vielleicht war es der längste Spaziergang, den sie je zusammen unternommen hatten. Länger sogar als damals, als sie bis ganz auf den Aggerdean Bluff gestiegen waren, um das Meer zu sehen und durch die schmierigen Fenster in das Haus mit den gespenstisch verhüllten Möbeln und den stillen Räumen zu
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