Die gelöschte Welt
einem Raum, der aus einem Gletscher geschnitten wurde. In diesen Erinnerungen entspricht mein Vater einer tiefen Stimme, die irgendwo aus der Höhe kommt, einer beweglichen Wand aus Wollhosen und Lederschuhen. Manchmal stößt er unerwartet herab und übergibt mir ungeschickt ein paar in Zeitung eingewickelte Geschenke. Meine Mutter ist brauner Cord und ein Löffel mit Essen. Ihre Hände liegen kühl auf meiner Stirn, dämpfen mein Fieber und heilen wie durch Magie Schürfwunden und Prellungen. Keiner der beiden hat in meinen kindlichen Erinnerungen ein Gesicht. Das ändert sich auch kaum, als ich älter werde. Ich erinnere mich, welche Gefühle ich wegen ihrer Mienen hatte, finde in meiner Erinnerung aber kein Bild, auf dem sie innehalten, keinen Schnappschuss ihrer Gesichter. Ich bin besorgt, ich könnte sie überhaupt nicht erkennen. Und wenn nicht, wie werden sie dann mich erkennen, nachdem ich so viele Jahre abwesend war?
Ich steige den Hügel hinauf. Meine geborgten Stiefel sind ein wenig zu groß, an der linken Hacke bekomme ich eine Blase. Wenn ich laufe, schieben sich meine Zehen bis ganz nach vorn. Dabei rutscht meine Hacke einen halben Zentimeter herunter und reibt über die Einlegesohle. Aus irgendeinem Grund bleibt ein kleines Stück meiner Haut am Stoff hängen. Es reibt seitlich, die Haut wird wund, die Stelle vergrößert sich und füllt sich allmählich mit Wundflüssigkeit. Morgen werde ich es bereuen. Im Augenblick ist das Gefühl der gelösten Haut, die rau und gespannt ist und nicht mehr ganz zu mir gehört, obwohl sie noch mit mir verbunden ist, ein wenig widerwärtig und zugleich faszinierend.
An diesen Hügel kann ich mich erinnern. Er täuscht den Besucher. Dank der Terrassenfelder, die es hier früher mal gab, glaubt man oft, man hätte das Schlimmste schon hinter sich, steht aber unversehens vor einem noch steileren Anstieg. Das Haus da oben ist dunkel. Vielleicht sind sie nicht zu Hause. Ich steige hinauf, die Blase spannt.
Ein Auto fährt vorbei. (Sind sie es? Werden sie mich erkennen? Werden sie anhalten und mich mitnehmen? Nein.) Wieder eine Erinnerung: zwei schlanke Gestalten in der Haustür, anmutige Arme winken zum Abschied. Viel Glück. Ich weiß noch, wie ich trotzig dachte, dass sie mich wohl lieber gehen als kommen sahen und ihre ungestörte Zeit genossen haben. Ich erinnere mich an Gonzo, der mich auf dem Weg zum Spielplatz oder in die Schule abholte und mich tröstete. Er sprudelte nur so vor Einfällen, und ich erinnere mich an bedingungslose Dankbarkeit. Heute weiß ich, dass auch er einsam war. Damals erschien es mir eher wie Mitgefühl.
Geh raus und spiel was. Daran erinnere ich mich. Cricklewood Cove war ein sicherer Ort, an dem Kinder allein herumstrolchen konnten. Vielleicht gab es auch Tagesmütter oder eine Kinderkrippe, aber ich kann mich an keines von beiden erinnern. Meine Eltern waren schöne Umrisse, die Arm in Arm von der Veranda winkten. Ich weiß noch, wie sie vorsichtig durch Legobauten schritten. Dennoch gehören auch sie zu den Erinnerungen, die ich mit Farbe nachbessern muss. Ich habe Mühe, mich ihrer Gesichter zu entsinnen. Auch so etwas passiert. Die Gesichter der Menschen, die man sein Leben lang kannte, verlieren im Laufe der Zeit ihre Konturen, bis man sich eingestehen muss, dass man zwar noch weiß, wer sie sind und welche Bedeutung sie haben, aber nicht mehr, wie sie ausgesehen haben. Das Bewusstsein greift zu Tricks, damit wir nicht bemerken, wie dünn die Verbindung geworden ist.
Ein weiteres Auto fährt vorbei, der schnelle Wagen eines Managers. Vielleicht gehört er ihnen. Aber das trifft nicht zu. Meine Hoffnung, endlich doch noch erlöst zu werden, nimmt nicht ab.
Ich erreiche die Hügelkuppe. Die Blase tut jetzt auch auf ebenem Untergrund erstaunlich weh. Ich federe die Schritte mit dem linken Knie ab, halte Fußgelenk und Fuß etwas steif und gehe weiter.
Auf der Veranda ist niemand, in der Küche brennt kein Licht. Das ist nicht überraschend. Das Tor ist morsch, das Scharnier verrostet. Das Metall wurde lange nicht geölt, ich spüre die Reibung durch das Holz. Das ist der Stil des Stummen Drachen: Kontakt halten, durch weiches Nachgeben erfahren, wohin sich der Feind bewegt und wo er innehalten wird. Widerstand ist Information. Das Tor leistet Widerstand, ein kleiner Zacken aus verrostetem Metall blockiert das Scharnier. Ich stemme mich dagegen und breche den Widerstand. Mein Feind rieselt in winzigen Rostkrümeln zu Boden. Das Tor
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