Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
Vom Netzwerk:
Eltern, deren Gesichter aus Versandhauskatalogen stammten. Was wird er nun tun, da er den Beweis seines Wahnsinns in Händen hält? So zerschellt seine eigenartige Fixierung an den Klippen der Wirklichkeit und liegt in Trümmern vor ihm. Wird er wieder genesen? Vielleicht kriecht er ja aus seinem Jammertal heraus und findet einen ordentlichen Job, kauft sich schöne Kleider und lässt sich mit einem Mädchen mit breitem Hinterteil irgendwo nieder, wo sie für ihn sorgt und neue Sporks in die Welt setzt? Eine Kolonie bukolischer Gören und eine großzügige Ehefrau, vielleicht ein paar zufriedene Schweine, das wäre ein passender Lebensabend für diesen guten und harmlosen Mann. Oder wird Crazy Joe sich fortan im Kürbisland herumtreiben und immer schlimmere Gewalttaten begehen, bis er letzten Endes vom Scheinwerferlicht eines Polizeihubschraubers erfasst wird, während er seine riesige Faust schüttelt? »Hände hoch, Joe. Gib auf. Hier ist Vater Dingle, dein alter Schuldirektor!« Aber Vater Dingles Geschwafel interessiert Joe nicht mehr. Dem hervorragenden Vertreter der Theologie und dem Trost der Mutter Kirche begegnet er mit lautem Gebrüll – wie King Kong. Er fühlt sich gedemütigt und missverstanden, er tobt wie ein Elementargeist und will nur noch grausame Rache üben. Hat er Geiseln genommen? Vielleicht. Oder er hat Bomben gebaut. Eigentlich ist es egal. »Joe, deine Mutter will mit dir reden!« Die Trumpfkarte des Verhandlungsführers erweist sich sowohl als Katastrophe als auch als Niete: Crazy Joe Spork hasst seine Mutter, die ihn jahrelang in den Schrank sperrte, weil er gegen ihre albernen Anordnungen verstoßen hatte. Er brüllt unpassenderweise, dass er seinen Spinat nicht essen wird, zieht ein riesiges altes Gewehr unter dem verschlissenen Mantel hervor und feuert los. Er tötet Dutzende Menschen, wird gleich darauf selbst perforiert und von den tausend Gewehren in der Umgebung größtenteils in einen roten Dunst verwandelt. Sein Kopf fällt auf den Boden und rollt blutfeucht vor die Füße des Polizeicaptain Malone.
    »Mist«, sagt Captain Malone. »Das war aber ein übler Hund.« Dann fährt der Rotschopf nach Hause (allerdings sind seine Haare von einem anderen Rot als die des armen Crazy Joe), um mit seiner irischen Frau und den sommersprossigen Hosenscheißern zu Abend zu essen. Bei Tee und Würstchen lehrt er sie, die Worte »Idiot« und »Patrick« richtig auszusprechen und ist mit sich und seinem Tag zufrieden.
    Tiefe Atemzüge, halb hinein. Und innehalten. Die Lungen füllen, Bauchatmung. Halt. Halb wieder hinaus, mit dem Bauch pressen. Halt. Die Lungen leeren. Halt. Hör auf zu lachen. Ja. Hör auf zu weinen. Noch einmal.
    Ich liege gekrümmt auf dem Treppenabsatz und habe den Teppich nassgeweint. Dieser Kummer, diese ungeheure, abgrundtiefe Verletzung bringt mich unweigerlich an den Ort, zu dem ich gehen muss. Zu dem Sandkasten, in dem ich Gonzo traf. Zuerst gehe ich nur im Geist dorthin, als die Erinnerung durch das Gefühl der Entfremdung und Verzweiflung geweckt wird, das ich zur Genüge kenne. Nichts hat seit jener Zeit so wehgetan. Aber kurz darauf bin ich auch persönlich dort, ein recht großer, schmaler Mann mit störrischem Haar. Ich stehe mitten in der Nacht in einem öffentlichen Sandkasten – der Tag ist vergangen, während ich im leeren Haus geschrien und mich gewunden habe. Aus respektvoller Entfernung beobachten mich einige Jugendliche, die verblüfft sind, dass ihr Treffpunkt und gelegentlicher Drogenumschlagsplatz von einem tränenüberströmten Irren beansprucht wird. Als ich meine Schuhe ausziehe und mit den Füßen im Sand scharre, kommen sie etwas näher, weil sie hoffen, ich könnte irgendwas Schreckliches oder Widerliches tun, das es wert ist, weitererzählt zu werden.
    Der Sand ist rauer, als ich ihn in Erinnerung habe. Vielleicht haben sie billigeren Sand nachgefüllt. Ja, genau. Früher haben sie den Sand von weit her geliefert. Wahrscheinlich existiert der Strand, von dem er ursprünglich stammte, nicht mehr. Damals war es weißer Sand, dieser hier ist eher gelblich. Er speichert mehr Feuchtigkeit und hält sie länger. Meine Zehen werden kalt.
    Auf der anderen Seite des Sandkastens und dreißig Jahre entfernt entdecke ich das Kind Gonzo. Er hat von einem Umkreis Besitz ergriffen, der ungefähr seiner doppelten Körpergröße entspricht. Er rollte sich darin herum und ebnete den Sand ein, dann glättete er mit den flachen Schuhsohlen die Dellen, die seine

Weitere Kostenlose Bücher