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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
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ernst. Es stört sie nicht, dass sie so eigenartig wirken. Sie sind, was sie sind.
    Die Glücklichen.
    Wir erreichen die Ecke der Lambic Street, wo früher der Eisenhandel war, dann die Packlehyde Road. Links, ungefähr zweihundert Schritte entfernt, steht die Soames School. Ein Stück dahinter beginnt der Doyles Walk, und das Haus am Ende ist der Warren, wo Elisabeth lebte, wenn sie nicht gerade in Wu Shenyangs Haus schlief. (Wie es dazu gekommen ist, wäre mir ewig rätselhaft geblieben, hätte ich nicht die andere Assumption Soames kennengelernt, die echte nämlich, die jenen verdammten alten Bussard, den wir als Schulleiterin kannten, nur als Maske benutzte, um uns sehr wirkungsvoll Toleranz zu lehren und uns auf die Nebenwege des Lebens und die Kannibalen vorzubereiten. Die Evangelistin war sicher entzückt, als sie entdeckte, wie Meister Wu, ein verrückter alter Knacker voller wichtiger Fähigkeiten und Weisheiten, direkt unter ihrer Nase ihre Tochter unter seine Fittiche nahm.)
    In der anderen Richtung liegt das Haus der Lubitschs. Die Esel sind jetzt an einem schöneren Ort, wo es keine Zäune und keine kläffenden Hunde mehr gibt, keine Lydia Copsen, die sie mit dem Anblick ihrer unangemessenen Garderobe foltert. Der alte Lubitsch hat es nie erklärt, aber ich nehme an, sie sind während der Reifikation zugrunde gegangen, als Cricklewood Cove vom Rest der Welt abgeschnitten wurde (ganz wörtlich sogar, denn am Südrand des Ortes ergoss sich das Meer in eine flache Senke und ließ neben dem Kino einen neuen Strand entstehen). Die Nahrung wurde knapp, und einen Esel kann man gut essen, wenn die Schränke leer sind. Gonzo glaubt, sie seien eines natürlichen Todes gestorben und neben den Rosen begraben worden. In gewisser Weise stimmt das ja sogar, weil sie vom Raubtier an der Spitze der Verwertungskette in schweren Zeiten verspeist wurden.
    Vor der Hochzeit war ich um der guten, alten Zeiten willen bei Gonzos Eltern zum Tee eingeladen. In Cricklewood Cove hatte es in den langen Monaten vor der Reifikation einige Unruhe gegeben. Aus den Hügeln waren Räuber heruntergekommen, um nach Essbarem zu suchen und Dinge einzutauschen, aber vor allem, um zu stehlen und Leute zu töten. Furchtbare Untiere hatten sich auf den Straßen herumgetrieben und den Bürgermeister verstümmelt; Assumption Soames hatte eine kleine Armee gegen vermeintliche Kannibalen angeführt, aber nichts gefunden. Als der Ort wieder zugänglich war, hörte man auch, es seien Leute verschwunden. Offenbar, so erzählte man sich atemlos, habe sich sogar eine ganze Stadt namens Heyerdahl Point in Luft aufgelöst – sie sei ganz und gar von Monstern aufgefressen worden. Aber so war es überall. Cricklewood Cove war eine Zuflucht. Das Leben hier war einfach und sicher, was ich in der Geschäftigkeit, als sich alle emsig darauf vorbereiteten, mich zu verheiraten, auch dringend brauchte. Der alte Lubitsch, der faltiger und kantiger geworden war, hatte etwas von Ungeheuern, Räubern und dem prekären Zustand der Welt gemurmelt. Er hatte ein großes schwarzes Bienenhaus für ganz besondere Bienen gebaut und trotz der Kälte nicht hereinkommen wollen. Ma Lubitsch hatte nur gelächelt und ihm auf einem Plastikteller ein Hörnchen hinausgebracht.
    Ich kann nicht zum Haus der Lubitschs gehen. Es ist noch zu früh. Auch der Evangelistin kann ich noch nicht unter die Augen treten, da ich nicht weiß, wo sich Elisabeth befindet. Auf dem Corvid's Field wurde ihre Leiche nie geborgen, aber das beweist noch nichts. Damals sind vier Milliarden Menschen spurlos verschwunden. Es ist lächerlich, mir diese Unwissenheit vorzuwerfen. Trotzdem tue ich es. Der einzige andere Ort, zu dem ich gehen kann, liegt daher an der Packlehyde Road dicht am neuen Meer, unmittelbar am Aggerdean Bluff. Das Haus meiner Eltern.
     
    Manche Erinnerungen sind in Grautönen gehalten, kaum voneinander zu unterscheiden. Wenn man sie vor sein inneres Auge ruft, färbt das Bewusstsein sie eilig ein und füllt die Lücken mit Farbtönen und Schatten. Dreht man den Kopf zu schnell herum, dann ertappt man sich selbst dabei, wie man rasch noch die Wände streicht, damit sie dem entsprechen, was dort sein müsste, auch wenn man es eigentlich nicht mehr weiß. Andere Erinnerungen sind reine Gefühle, nur Farben und keine Einzelheiten. Das Wohnzimmer in meinem Elternhaus wirkt im Rückblick kühl und hellblau, mit einem Kamin und modernen Ölgemälden in Rahmen aus Treibholz. Es ist, als lebte man in

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