Die gelöschte Welt
winterliches Kaminfeuer, auch irgendetwas Bitteres. Außerdem riecht es nach einem Tier, vielleicht nach einem Hund. Möglicherweise hat Ma Lubitsch mal wieder einen Streuner adoptiert, einen Kannibalenhund, der noch übrig war. (Ich male mir aus, wie sie ihm den zotteligen Kopf krault und ihn mit einem Klaps auf die dicke schwarze Nase bestraft. »Tsk-tsk! Das darfst du nicht fressen! Es gehört sich nicht, Gäste zu fressen. Nur spielen … bist du ein guter Hund? Ja? Ja, du bist ein guter Hund!« Dann wackeln der riesige Kopf und der Stummelschwanz, während das Tier seine Bereitschaft erklärt, ihr ewiger Diener zu sein, sozusagen als Gegenleistung für ihren Glauben (der ebenso großzügig wie unpassend zur Anwendung kommt), dass in allem und jedem etwas Gutes stecke. Und ein kleiner Kuchen und die Freundschaft würden schon alles richten. Aber das ist es nicht, es passt nicht ganz zu diesem flüchtigen Geruch in der Luft. Vielleicht ist es einfach nur der Eigengeruch des Hauses – ein wenig Feuchtigkeit, alte Möbel und gutes Essen.
»Du hast ihn hier gesucht«, sagt Ma Lubitsch plötzlich. Ich sitze wieder auf meinem Sessel am Feuer, sie hat frischen kalten Saft gepresst und Speck knusprig angebraten. Diesen Speck kann man mit den Fingern nehmen und wie ein Bonbon in den Mund schieben, oder man packt ihn mit Mayonnaise zwischen braune Brotscheiben. Dazu Assam und warme Milch, damit jeder Bissen ein wenig nach Sahnebonbons schmeckt.
»Ich weiß nicht«, gebe ich zu.
»Tsk-tsk.« Ma Lubitsch ist daran gewöhnt, dass die Leute nichts wissen. Dazu ist sie ja da. Ihre Aufgabe ist es, für die anderen Leute alles zu wissen, bis diese es selbst wissen. Sie ist brummig, bis die Leute ihre Köpfe einschalten und es selbst herausfinden. »Du bist hergekommen, weil du bist, wie du bist, und weil er ist, was er ist. Natürlich war das so. Du weißt auch, was er jetzt tut.«
Ich habe keine Ahnung. Halt, natürlich weiß ich es. Er macht etwas Großes und Dummes, um die Kreidetafel sauber zu wischen. Etwas, das Gonzo ganz und gar entspricht, mit Feuerwerk und Fanfaren, um sich vor den Augen der Welt zu rehabilitieren. Etwas Heroisches. Aber es ist niemand da, der ihn heraushauen kann, wenn es schiefgeht. Gonzo fliegt allein. Er braucht Hilfe. Er braucht eine zweite Meinung.
Was ich auch sonst noch sein mag, ich bin jedenfalls nicht der Typ, der einen Freund hängen lässt. Laut Definition bin ich sogar das genaue Gegenteil. Laut Gonzos Definition. Ich könnte mich entscheiden, ein anderer Mensch zu werden, aber ich will es nicht. Ich bin diesen anderen begegnet und mochte sie gar nicht.
Irgendwie habe ich mich verraten – meine Miene, ein Seufzen oder sonst etwas. Jedenfalls nickt der alte Lubitsch bei sich und gibt eine Art »Hmpf« von sich. Es ist ein bekräftigender Laut.
»Er hat einen Job in der Stadt«, fährt der alte Lubitsch fort. »Sie sind eigens zu ihm gekommen. Manager. Sie haben ihn persönlich aufgesucht, und danach fühlte er sich sehr gut. Sehr wichtig. Es war komisch, und Yelena war auch nicht glücklich. Gonzo sollte solche Männer nicht brauchen, um an sich selbst zu glauben. Aber so lief es eben. Ohne sie war er wie eine Gliederpuppe. Schlapp. Auch Leah war nicht glücklich. Sie wollte nicht sagen, warum sie unglücklich war, aber es war natürlich wegen des Jobs. Sie war unglücklich über das, was sie von ihm verlangten, und sie war unglücklich, weil er einwilligte.«
»Ein gefährlicher Job.«
»Das kann schon sein. Aber außerdem ein schlechter Job.«
All das verfolgt Ma Lubitsch mit zunehmender Ungeduld. Es ist ein Gespräch unter Männern, unnötig präzise. Sie tätschelt ihrem Gatten den Arm und ermahnt ihn, den Mund zu halten.
»Du musst meinem Sohn helfen«, sagt sie. »Dazu bist du ja da. Später ist dann noch genug Zeit zum Ausruhen. Dann kannst du immer noch wütend auf ihn sein. Aber im Augenblick spielt das keine Rolle. Gonzo braucht dich.«
Ma Lubitsch beherrscht die Mathematik der Liebe. Die Liebe ist erbarmungslos. Sie schaut nicht auf die Kosten, nur auf den Wert. Ich kam her, weil ich mich an die Beziehung zu zwei Menschen erinnerte, die mir nie begegnet waren. Ich konnte nicht damit rechnen, dass sie mich annehmen und meine Zuneigung erwidern. Ich erwartete nicht, in diesem Haus eine Familie samt den zugehörigen Verpflichtungen zu finden, aber so ist es geschehen. Deshalb werde ich tun, was ich schon immer getan habe. Ich werde Gonzo suchen und ihn vor sich selbst
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