Die gelöschte Welt
direkt antworten, aber das ist auch nicht nötig. In diesem Zimmer gibt es keine Eile. Das Feuer wird ewig brennen – der alte Lubitsch wirft noch einen Scheit nach, aus dem feuchten Kiefernholz verpufft dampfend die Feuchtigkeit, schließlich fängt es Feuer. Der Tee wird ohne Unterbrechung fließen. Dies ist das Herz der Welt, und ich bin hier sicher. Ich sammle meine Gedanken und erzähle meine Geschichte. Dabei versuche ich nicht, meine eigenen von Gonzos Erinnerungen zu trennen oder über das zu urteilen, was in einem bestimmten Raum tatsächlich geschah. Die Vergangenheit besteht aus Erinnerungen, und jeder Mensch sieht ganz eigene Bilder. Ich kenne meine Geschichte und erzähle sie, als wäre es meine. Auch den Augenblick meiner Erschaffung überspringe ich nicht. Ich mache keine Ausflüchte und stelle klar, wer ich bin. Ich bin Gonzos Schatten. Ich bin sein eingebildeter Freund, der dann real wurde. Ich bin ein Neuer.
Ma Lubitsch reißt die Augen weit auf und weicht zurück, dann fängt sie sich wieder und knurrt. Gleich darauf beugt sie sich vor, stupst mich prüfend mit einem dicken Finger und passt auf, ob etwas passiert. Als sich nichts weiter ereignet, macht sie es sich wieder in ihrem Sessel bequem. Der alte Lubitsch nickt nur, als verstünde er erst jetzt etwas, das er schon vor langer Zeit hätte einsehen müssen. Keiner der beiden regt sich sonderlich darüber auf, dass ein Abgespaltener zu Besuch ist.
»Ich bin ein Monster«, erkläre ich ihnen für den Fall, dass sie es nicht verstanden haben.
»Wirklich?«, fragt der alte Lubitsch zurück.
»Ja.«
»Was ist denn das Monströseste, was du je getan hast?«
Jetzt, da er danach fragt, fällt mir kein schreckliches Verbrechen ein. Vielleicht, dass ich bei der Großen Löschung mitgewirkt habe. Aber darin waren so viele Menschen verwickelt, auch Gonzo.
Schließlich sage ich, ein Monster habe eben eher damit zu tun, dass man etwas ist, und man müsse nicht unbedingt auch noch etwas tun.
»Pah«, macht der alte Lubitsch.
Da sie offenbar nichts mehr dazu sagen wollen, erzähle ich weiter.
Bei Sonnenaufgang ist es auf dem Aggerdean Bluff kalt. Der Seewind ist feucht, es riecht nach Salz und Tang. Die Wellen sind klein und brechen sich nicht. Der Himmel ist von einem Grau, dass man den Horizont nur dort erkennen kann, wo die aufgehende Sonne als weißer Fleck hinter einer Wolke aufscheint – eine schwarz-weiße Welt nach den warmen Farben des Wohnzimmers. Der alte Lubitsch trägt seine lächerliche Pelzmütze, die mehr denn je an eine Ratte erinnert. Ma Lubitschs Kopf ist unbedeckt, sie hat sich aber einen Tweedschal um den Hals gelegt, der auch ihre Ohren zur Hälfte schützt. Ihr dicker Mantel hat die Farbe von Erbsensuppe. Wenn die Sonne einen Augenblick lang durch die Wolken bricht, erkennt man, dass sie früher schön war, dass sie es sogar immer noch ist. Mir wird klar: Der alte Lubitsch sieht sie ständig so. Seine Yelena.
Auf unserem Spaziergang spähen wir zuerst durch die Türen des Hauses auf dem Aggerdean Bluff. Ich biete ihnen an, sie hineinzuführen. Als wir aber die Tür geöffnet haben, kommt es mir wie ein sinnloser Einbruch vor. Soll ich sie im Haus herumführen und ihnen die Dinge zeigen, die niemals dort waren? Hier ist das Zimmer, in dem ich niemals schlief. Dort hat die Mutter, die ich nie hatte, mein Frühstück auf einem Herd zubereitet, der ebenfalls nie existierte. Darauf habe ich keine Lust, und sie glücklicherweise auch nicht. Ich führe sie den Hügel hinunter bis zum Sandkasten und zeige ihnen das Spiel. Dort war Gonzo. Da war der Eiswagen. Ihr wart auch hier. Ja. Ma Lubitsch erinnert sich noch an den Tag – natürlich weiß sie es noch, sie erinnert sich an jeden einzelnen Tag dieses schrecklichen Monats – und nickt, als ich den Sand glatt streiche. Ja, das war Gonzos Spiel. Und meines. Sie lächelt, alte Liebe und alter Schmerz erwachen.
Wir wandern durch Cricklewood Cove, das noch im Schatten liegt. Weit hinten ist der Himmel noch dunkel. Dies sind meine Straßen. Trotz der Dämmerung sind schon einige Menschen unterwegs. Frühaufsteher putzen sich die Zähne oder laufen hinter den Fenstern hin und her. Wir haben genügend Luft geschnappt und müssen über einige Dinge nachdenken. Außerdem sollten wir natürlich frühstücken, und in einer halben Stunde erwachen die Bienen und danach auch alle anderen Menschen in Cricklewood Cove. Ike Thermite wird bald nach mir suchen.
Im Flur rieche ich es wieder:
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