Die gelöschte Welt
er abkühlen kann. Er steht auf dem Herd, wenn er gebraucht wird, und kommt wieder an den Haken, sobald er leer ist. Deshalb gibt es Sicherheitsvorschriften für den Umgang mit dem Kessel, damit man sich nicht verbrennt. Natürlich sind die Regeln nicht schriftlich festgelegt, sondern eher ein Teil der Landschaft. Ich befolge sie, ohne nachzudenken.
Zuerst muss man sich vergewissern, dass weder Spielzeug, noch Tiere oder kleine Kinder auf dem Boden im Weg sind. Man sieht sich auch nach hinten um, damit nicht jemand gegen einen stolpert. Zweitens nimmt man das zerlumpte Handtuch vom verborgenen Haken neben dem Herd (doppelt genäht und mit Sand und Lehm gepolstert) und wickelt es sich um die Hand. Drittens greift man hoch und prüft das Gewicht des Kessels, falls ein Trottel (vermutlich Gonzo) ihn mit Wasser gefüllt aufgehängt hat. Schritt eins ist zu wiederholen, dann kommt der Kessel herunter, wird aber noch nicht auf den Herd gesetzt, sondern erst einmal am Kran aufgefüllt, weil kaltes Wasser spuckt, wenn es mit heißem Metall in Berührung kommt. Anmerkung: nicht so viel Wasser einfüllen, dass der Kessel anschließend zu schwer ist. Viertens wird er endlich auf den Herd gestellt. Das zerlumpte Handtuch kommt wieder an den Haken, damit der nächste Benutzer es dort findet, wo er es sucht.
Als ich dies erledigt habe, drehe ich mich zu Ma Lubitsch um, die mich beobachtet. Ihre Augen liegen im Schatten. Ich bemerke, dass sogar ihre Stirn fett ist.
Sie sagt »Hm ja« oder »Nu gut«, um mir zu verstehen zu geben, dass ich nicht gegen ihren Kesselkodex verstoßen habe. Dann scheucht sie mich aus dem heiligen Ort hinaus in den Flur und winkt in Richtung Wohnzimmer, wo ihr Mann schon ein Feuer im Kamin angezündet hat und auf mich wartet. Ich zögere. Sie drängt mich weiter und setzt zu einer Dreipunktdrehung an.
Wir haben eine Weile geschwiegen. Wir haben nachgedacht, ob wir eine Art Vorzeichen füreinander sind. Wir haben so lange gezögert, wie es eben ging. Und dann habe ich einfach nach Gonzo gefragt und erfahren, dass sie ihn kürzlich gesehen haben. Der alte Lubitsch seufzt und nickt und riecht den Sturm im Wind. Er riecht ihn schon seit Tagen.
»Sie sind zusammen gekommen«, sagt der alte Lubitsch. »Gonzo und Leah. Yelena hat sich gefreut. Sie kamen ohne Vorwarnung und schliefen im Gästezimmer. Warum nur? Das frage ich mich heute noch. Waren sie schwanger? Sie brauchen sicher kein Geld. Suchten sie ein Haus? Aber nein, das auch nicht. Er sagte, er hätte einen neuen Job. Einen ganz besonderen. Er würde nun die Welt verbessern, damit sie wieder sicher werde. Er war sehr stolz darauf. Aber dahinter steckte noch etwas anderes. Irgendwas anderes.«
Der Feuerschein zeichnet Zickzacklinien ins runzlige Gesicht des alten Lubitsch. Fast könnte man meinen, er würde im Licht der Flammen größer und kleiner werden. Es riecht nach brennendem Kiefernholz.
»Gonzo ist kein Diplomat. Er kann nicht das eine sagen und etwas anderes denken. Er kann seine Mutter nicht anlügen, weil er sie liebt, und mich kann er nicht anlügen, weil – ich will nicht sagen, dass er mich nicht liebt, aber zwischen Müttern und Söhnen ist es einfach anders als zwischen Vätern und Söhnen –, weil ich ein alter Furz mit scharfen Augen bin und er nicht viel Übung im Lügen hat. Aber er hat mit jeder Faser gelogen. Es hat mich förmlich angebrüllt. Alles ist in Ordnung, alles ist wundervoll, seht nur, wie glücklich ich bin und wie locker ich bin. Pah.« Der alte Lubitsch nimmt das Stocheisen und wühlt im Kamin. Er beginnt sachte und schiebt ein verirrtes Scheit vom Läufer vor dem Kamin weg. Das Scheit ist rund, wie eine Banane gebogen und rollt bei jedem Versuch wieder zurück. Der alte Lubitsch stößt fester nach. Das Eisen rutscht ab, das Scheit zögert und rollt zurück. Auf einmal sticht er danach und schlägt sogar darauf. Die Funken stieben gefährlich hoch. Ich warte schweigend, bis er aufhört und das Stocheisen wieder auf den Ständer hängt. Dann fährt der alte Lubitsch fort.
»Sein Arm war verbunden. Der Verband war am Rand schmutzig. Ein alter Verband. Prellungen und Brandwunden. Leah nahm ihn ab, vorsichtig, wie sie ist. Er war zornig, unglaublich zornig und wütend, und er schämte sich.« Gonzos Vater brütet. »Gonzo ist ein guter Mann. Wir haben ihm die Regeln erklärt, als er noch ein kleiner Junge war. Was Männer tun dürfen und was nicht. Das hat er verstanden. Marcus …« Der alte Lubitsch
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