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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
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selbstbewussten Manager, dem ich nie begegnet bin, so »Hallo« zu sagen, als würde ich ihn kennen. Ich habe es mir aus allen Blickwinkeln überlegt und beschlossen, dass es fast keine Möglichkeit gibt, dies zu tun, ohne unbedeutender zu wirken als er. Das Ganze ist ein Miststück von einem Problem. Deshalb habe ich auch dafür gesorgt, dass es zu Dick Washburns Problem wird.
    Sehen wir uns den Raum von oben an. Er ist nicht symmetrisch geformt, entspricht aber annähernd einem Oval. Ringsherum stehen Tische und Stühle bereit. Später wird es kühl und nach Zigarren und verschütteten Mojitos riechen. Der Teppich wird die Abdrücke von hundert eleganten Schuhpaaren aufnehmen, auf den Bleikristallscheiben werden die Spuren von Designerlippenstift und Manager-DNA zurückbleiben. Der Schreibtisch, der am Eingang zum Frühstückszimmer in Dienst genommen wurde, wird nach Parfüm riechen, weil sich die Frau mit dem durchdringenden Lachen weit nach vorn beugt, um ihrem Gesprächspartner die Krawatte zurechtzurücken. Mit siebzehn Jahren hat sie von ihrer Mutter gelernt, sich vor dem Ausgehen etwas Parfüm in den Ausschnitt zu sprühen. Im Augenblick wimmelt es im Raum von Gästen. Würde man das Geschehen im Zeitraffer betrachten, man könnte solche Strukturen wie Wolken und Hochdruckgebiete erkennen. Im Zentrum der größten Ballung befindet sich Richard Washburn, Esquire. Seine Gegenwart definiert das Kräftespiel im Raum. Das Flattern seiner Flügel erzeugt Erschütterungen an der Bar und Flutwellen auf dem Chaiselongue vor den Terrassentüren. An den meisten Abenden bildet Richard Washburn das Auge des Wirbelsturms. Aber heute ist er nicht allein. Etwas stimmt nicht, irgendetwas stört sein sonst so glatt verlaufendes Leben. Ein weiteres Wetterereignis, eine andere Hochdruckzone, klein, aber sehr heiß, bewegt sich auf dem Schurwolleteppich. Vielleicht ist es ein Tornado. Vielleicht der Beginn eines Hurrikans. Wird ihn die Kraft abstoßen oder verschlingen? Wahrscheinlich wird er seine eigene Kraft noch verstärken und seinen Einflussbereich erweitern, aber er könnte auch eine Gefahr darstellen. Wie auch immer, er wird ihn nicht ignorieren können. Deshalb bewegt er sich durchs Gedränge in meine Richtung. Er streckt die Hand aus und will auf eine eindrucksvolle, machtvolle Art »Hallo« sagen.
    Dann aber reißt Dick Washburn die Augen weit auf. Auch ich spüre die Veränderung und ahne bereits, was geschehen ist, bevor ich mich umdrehe. Wenn meine Gegenwart hier wie ein Tropensturm wirkt, der Dicks Inselparadies mit seinem warmen Wetter und dem regelmäßigen sanften Regen gefährdet, dann gleicht dies der Ankunft von Moses am Roten Meer. Die Bewegungen von Wind und Wasser schlafen ein. Etwas Gewaltiges ist geschehen. Hinter mir entsteht ein eigenartig vertrautes Geräusch: Schuhe mit kleinen Metallnägeln, die im Flur auf den Holzdielen tappen.
    »Hi, Humbert«, sagt Dickwash etwas gequetscht. »Es freut mich, dass Sie kommen konnten.« Ich frage mich, ob sich Humbert Pistill überhaupt schon einmal auf einer dieser Abendgesellschaften hat blicken lassen. Ich frage mich, warum er ausgerechnet heute auftaucht. Vielleicht kann sich Dickwash auf eine Beförderung freuen. Vielleicht will ihn Humbert auch bei lebendigem Leibe auffressen.
    »Richard«, erwidert Humbert Pistill jovial, »das hätte ich um keinen Preis der Welt versäumen wollen. Aber ich wollte Sie nicht Ihrem Gast entführen.« Nicht die Mehrzahl. Nur ein Gast. Ich. Humbert Pistill streckt eine kräftige Hand aus. Die andere (wahrscheinlich eine Prothese) hat er, ganz der freundliche alte Langweiler, in die Hosentasche gesteckt. So wirkt er unbeholfen und ein wenig zerknittert, aber seine Kleidung sitzt so perfekt (zweifellos von Royce Allen persönlich aus der besten, mit Milch gewaschenen Vorhaut eines Brontosauriers genäht), dass er völlig entspannt wirkt. Aber das ist er ja auch.
    »Ich bin Pistill, nennt mich Humbert …«
    Daran erinnere ich mich noch von der Einsatzbesprechung in Harrisburg. So antworte ich mit der zweiten Zeile: »Pistill wie die Pistole …«
    Er starrt mich einen Moment lang an. »Pistole wie der Kopfschuss …«
    »Ist das nicht ein fürchterlicher Name?«
    Damit habe ich Humbert Pistills Aufmerksamkeit erregt. Sein machtvoller Blick, den er nun erst aktiviert, ruht wie eine Tonnenlast auf meiner Brust. Es ist absolut still, abgesehen von irgendjemandem weiter hinten, der ausgerechnet in diesem Augenblick einen Satz mit

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