Die gelöschte Welt
Vernichtung. Dieser Drang steckte hinter der Waffe, mit der Gonzo auf mich schoss, und hinter den Löschungsbomben. Es ist der Wunsch, nicht mehr über den Feind nachdenken zu müssen, weil er in dieser Welt einfach nicht mehr existiert. Humbert Pistill kämpft jetzt genau diesen Kampf, und er wird mich ein für alle Mal vernichten, wenn ich ihn nicht daran hindere. Das Problem ist eben nur, dass ich nicht weiß, wie.
Pistill lässt mit seiner guten Hand einige Hiebe auf mich los. Die andere hat er jetzt hinter den Rücken gelegt. Warnung: Das bedeutet, er hat eine Waffe. Er war also vorbereitet. Er will mich damit überraschen. Oder er will nur, dass ich dies glaube und viel zu sehr auf die unsichtbare Hand achte. Man wird leicht bewusstlos geschlagen, wenn der Gegner mit einer zerbrochenen Flasche herumfuchtelt. Denn die scharfen Kanten verheißen üble Schnittwunden und fesseln das Auge. So kann die andere Hand blitzschnell einmal, zweimal, dreimal zuschlagen, und es ist vorbei. Also darf ich mich nicht ablenken lassen. Keine vorschnellen Schlüsse ziehen. In Bewegung bleiben. Ausweichen. Der Gegner greift mit Schwüngen und geradeaus an. Dein Körper hat Gelenke. Benutze sie. Ich wiege mich, beuge mich, drehe mich. Endlich kreisen meine Arme nicht mehr wie Windmühlenflügel, sondern machen sinnvolle Bewegungen. Ich versuche gar nicht erst, die Hiebe direkt abzublocken. Ronnie Cheung könnte das, Gonzo vielleicht auch. Ich kann das aber nicht. Ich sorge mit raschen Schritten dafür, dass mich die Angriffe nicht treffen, und lasse die schwere Hand an mir vorbeisausen. Bewegung, ein Schritt, vorbeihuschen, drehen. J a. Er kann mich nicht berühren. Daran erinnere ich mich. Ein einzelner Gegner ist kein Problem. Er hat nur begrenzte Möglichkeiten und verbirgt immer noch seine Hand.
Doch Humbert Pistill beobachtet mich. Er sieht mir zu und ahnt meine Bewegungen voraus. Je besser ich seinen einarmigen Angriffen ausweichen kann, desto aufmerksamer sieht er zu. Er beobachtet meine Füße. Ich schlage zurück und verändere meine Ausweichbewegungen, um die beste zu bestimmen: Der Marsch der neun Paläste, Die Schritte der fünf Elemente, Gehen wie Elvis. Gehen wie Elvis. Er atmet schneller, als sei er gierig. Gehen wie Elvis. Er schneidet eine höhnische Grimasse, vielleicht lächelt er auch. Ja, eindeutig – Humbert Pistill erwidert meinen Blick und grinst. Er lächelt mich nicht an. Wir sind keine Freunde. Wir sind Nicht-Freunde. Er lächelt über meinen Elvis-Gang, als wäre ich das letzte Kätzchen im Wurf, das gleich ertränkt wird. Er erkennt die Bewegungen, und wie ein Albtraum wird er größer und noch gemeiner, kaum dass ich denken kann, ich hätte ihn im Griff.
Er holt die linke Hand hinter dem Rücken hervor. Es ist überhaupt keine Prothese. Die Hand besteht fast vollständig aus verwachsenen Knochen. Sie ist wie eine Keule. Ronnie Cheungs Hände waren groß und fest. Vermutlich so stark, wie Hände überhaupt sein können, und offenbar waren sie nützlich, um zu essen oder etwas zu packen. Außerdem hatte sich Ronnie genau überlegt, wie weit er auf dem Weg, eine menschliche Tötungsmaschine zu werden, überhaupt gehen wollte. Er hatte das Training seinen Körper formen lassen, bis jener Punkt erreicht war, von dem an er nur noch für diesen Zweck geeignet gewesen wäre. Genau dort hatte er die Grenze gezogen. Ronnie war für notwendige Gewaltanwendung durchaus zu haben, ließ sich aber aus genau diesem Grund besonders giftig über die andere Sorte aus. Ich trainiere keine Ninjas, hatte er zu Riley Tench gesagt. Das war sein Glaubenssatz. Aber man hörte gewisse Geschichten, und eine dieser Geschichten betraf die Eisenhautmeditation.
Dahinter steckt die Idee, man müsse den ganzen Körper in eine Waffe verwandeln. Man schlägt beispielsweise mit einer gewöhnlichen Hand auf Dinge ein. Man beginnt mit einem Sack voller Wolle. Dann folgen Sägemehl, Drahtwolle und Eisenfeilspäne. Anschließend benutzt man nur noch ein Brett. Danach einen Stein. Man schlägt immer weiter. Wenn man das schafft, kann man einen Stein so stark aufwärmen, dass sich ein Ei darauf braten lässt. Man schlägt immer weiter, bis die Schmerzen nur noch eine Erinnerung sind und die Hand gebrochen ist, wieder zusammenwächst und am Ende zu einer massiven Waffe wird, mit der man sich aus einem Banktresor befreien oder dem Gegner mit einem einzigen Schlag sämtliche Rippen brechen kann. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, dieses
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