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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
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die Einrichtung des Raumes mit den Augen einer Putzfrau oder eines Umzugshelfers.
    Zum Beispiel: zwei Lehnsessel, an verschiedenen Stellen rissig und von erheblichem Alter, allem Anschein nach aber ungeheuer gemütlich. Sie stehen links und rechts neben dem offenen Kamin am Ende des Raumes, zwischen ihnen befindet sich ein raffiniert konstruierter Kaffeehaustisch, unter dessen aufklappbarer Fläche man Bücher lagern kann.
    Zum Beispiel: Ein Ledersofa von ähnlichem Alter steht mit der Lehne zu uns. Allem Anschein nach (ich erkenne ein Kissen und eine Decke) wurde es unlängst als Notbett benutzt. Es scheint sogar, als lagerte dort immer noch jemand, denn am westlichen Ende ragen zwei in weißen Socken steckende Füße heraus, schlank und (nach dem Muster der Socken zu urteilen) ziemlich sicher weiblich, vielleicht in meinem Alter oder ein wenig jünger.
    Zum Beispiel: eine altmodische Standuhr aus dunklem, mit Goldeinlage verziertem Holz und mit einem schön gemaltem Zifferblatt. Sie läuft tadellos, geht aber ein wenig vor. Die Fronttür ist offen, das Pendel schwingt gemächlich hin und her und produziert gegen jede Konvention ein ewiges, eindeutig erkennbares Tacktick. Dieses Tacktick gibt mir auch zu verstehen, dass die Person auf dem Sofa lebendig und keineswegs tot ist, denn der nördliche Fuß zuckt manchmal eine kleine Weile im Takt des Tacktick, ehe er wieder zur Ruhe kommt.
    Zum Beispiel: ein Schreibtisch mit Stuhl, beide großzügig mit Kuchenkrümeln und Papier bedeckt. Der Schreibtisch ist eher zweckmäßig als beeindruckend. Auf all den Stapeln und Stößen mit Briefen und Zeichnungen liegen ein einzelnes Blatt schwarzes Papier und ein Bleistift. Mister (Meister) Wu benutzt für gelegentliche Notizen keinen Füller, denn dort, wo er herkommt – oder in der Zeit, aus der er kommt –, ist Tinte teuer. Deshalb benutzt Mister (Meister) Wu einen extraweichen Bleistift, der gut geeignet ist, chinesische Schriftzeichen zu malen.
    Zum Beispiel: ein altmodisches Grammofon, keine Stereoanlage, kein Plattenspieler und kein CD-Spieler. Nur dieser zerkratzte, quietschende Apparat mit einem Tonarm aus Chrom und einem riesigen, wie eine Blüte geformten Trichter, dazu eine stumpfe Nadel, die bei 78 Umdrehungen pro Minute brüchigen alten Scheiben Musik entlockt. Das ganze Ding läuft rein mechanisch, ohne Strom, Transistoren oder Silizium.
    Für mich, ein Kind des digitalen Zeitalters, ist das eine mächtige weiße Magie und derart Ehrfurcht einflößend, dass ich einen Moment lang ganz vergesse, wegen Wu Shenyang nervös zu sein. Es fällt mir ohnehin schwer, nicht zu vergessen, dass er ein schrecklich wichtiger und ernster Mann ist, denn er scheint alles als eine Art Spiel zu betrachten. Jetzt springt er zum Grammofon hinüber und führt uns das Wunderwerk vor: Er zieht es auf, wählt eine alte Schallplatte der Fisk University Singers aus und wartet mit breitem Grinsen, was ich zu seinem wundervollen Trick sage. Ich bin von der knisternden Vollkommenheit viel zu sehr gebannt, um zu lächeln, bis die Platte zu Ende ist und er mit geschickten Fingern die Nadel abhebt. Unter dem Apparat zieht er einen Karton mit noch mehr von diesen unglaublichen Aufnahmen hervor und drückt ihn mir in die Hand. Besorgt, dass ich eine zerbrechen könnte, blättere ich die Schallplatten durch und entscheide mich schließlich für das Adagio aus Mozarts Klarinettenkonzert in A-Dur, das wir bis zu Ende anhören. Mister (Meister) Wus Blick ruht auf meinen Fingern, als ich die Nadel abhebe, wie er es getan hat. Dieses Ding ist zu perfekt, zu gut erhalten und zu liebevoll hergestellt, um es durch eine Achtlosigkeit zu beschädigen. Dann betrachte ich endlich den Mann, der vor mir steht.
    Wu Shenyang ist groß und dünn. Er sieht nicht wie ein Buddha aus, sondern eher wie eine Leiter im Morgenrock. Die Zeit hat ihn poliert, geschliffen und gestählt. Er ist beinahe achtzig und stärker als zwei Collegesportler zusammen, auch wenn er auf dem rechten Bein etwas humpelt. Sein breites, umbrafarbenes Gesicht bleibt nicht so unbewegt wie das von Takagi Sensei, der einmal Marys Dojo besuchte und geringschätzig grunzte, als ich schwächliche Angriffe auf ein Mädchen aus Hosely vorführte. Trotz der buschigen Augenbrauen, die silbern über seinen Augen prangen, ist er keineswegs streng. Wu Shenyang lacht laut – erschreckend laut – und in den unpassendsten Augenblicken. Er scheint sich über völlig belanglose Dinge zu freuen wie die Farbe des

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