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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
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Fensterkitts und den rutschigen Teppich vor seinem Schreibtisch. Letzteres demonstriert er mir, indem er sich mitten auf das gefährliche Stück stellt und sich wild um sich selbst dreht, wobei er mit dem ganzen Körper wackelt und seine Sandalen hin und her rutschen lässt, das Gewicht rasch von einem Bein auf das andere verlagert und die Hüften verdreht. Als er fertig ist, drängt er mich, es ebenfalls zu versuchen. Sofort befürchte ich, es könnte so aussehen, als machte ich mich über sein lahmes Bein lustig, aber auch hier ahme ich ihn genau nach, und er lobt mich lachend und ruft: »Elvis Presley! Graceland!« Als er »Rock and Roll« sagen will, verheddert sich seine Zunge, weil er auch nach so vielen Jahren der Übung das Englische immer noch mit dem Akzent seiner Muttersprache spricht. Aber auch das stört ihn nicht im Mindesten, also mache auch ich mir nichts daraus. Anschließend reden wir über bedeutende Dinge: Er mag meine Hosen, glaubt aber, ich sei zu alt für meine Uhr, auf deren Zifferblatt eine Katze mit ihrem Schnurrbart Stunde und Minute anzeigt. Außerdem meint er, ich solle den Friseur wechseln, und auch wenn meine Loyalität gebietet, Ma Lubitschs am Küchentisch entstandene Haarmode zu verteidigen, weiß ich doch, dass er Recht hat. Wu Shenyang entschuldigt sich daraufhin bei mir und Ma Lubitsch. Hinter dem Sofa schnaubt es, aber ich lasse mich nicht beirren. Ein älterer Fremder behandelt mich ohne Ironie wie einen Gleichgestellten – trotz meiner geringeren Erfahrung und meines unzureichenden Urteilsvermögens in Bezug auf Armbanduhren. Im Verlauf der Diskussion über die Uhr vergleichen wir auch unsere Unterarme, wobei sich herausstellt, dass meiner genauso dünn ist wie seiner, was ihn aus irgendeinem Grund ausnehmend freut. Erst als ich erkläre, warum ich gekommen bin – obwohl er es natürlich weiß –, gewinnt er seine Haltung zurück. Ernst und nachdenklich sieht er mich an, und ich bereite mich auf das Unvermeidliche vor, auf die unmöglich zu bestehende Prüfung und die darauf folgende traurige Ablehnung. Er dreht sich zur Wand um und nimmt zwischen den Enten ein kurzes, breites Schwert mit einseitiger Schneide und scharfer Spitze herunter. Achtsam hält er die Scheide mit einer Hand, zieht die Waffe heraus und wendet sich an mich.
    »Ein Kriegswerkzeug. Sehr respektabel. Handarbeit.« Er schneidet eine Grimasse. »Du könntest auch sagen, ein Schlachtermesser. Es ist sehr scharf«, sagt Wu Shenyang, »und sehr alt. Nimm es und sage mir, was du fühlst.« Er kommt zu mir und hält mir das Heft hin, aber irgendwie rutscht sein schlimmes Bein aus, als er auf den Läufer tritt. Dabei schleudert er das alte Kriegswerkzeug in die Luft, es dreht sich langsam um sich selbst, bis es (wie ich erleichtert bemerke, auch wenn ich noch nicht genug Zeit hatte, mich zu bewegen) nicht mehr mit der Spitze auf mich zielt. Wu Shenyang stürzt weiter nach vorn, fast ist es ein Hechtsprung, und mir wird klar, dass die Waffe, deren Griff jetzt vor meine Brust prallt und blockiert ist, seinen Rumpf durchbohren wird. Also muss ich dringend etwas tun – und greife ein. Die obere Schneide des Schwerts ist stumpf, daher schlage ich mit der rechten Handkante darauf und drücke die Spitze zur Seite, mache einen Schritt nach vorn und gehe mit geradem Rücken in die Knie, um den Sturz des alten Mannes abzufangen.
    Er stolpert nicht. Sein schlimmes Bein streckt sich und nimmt sein Gewicht mühelos auf, die ebenso beiläufig wieder eingefangene Klinge zischt in einer fließenden Spirale durch die Luft und kehrt in die Scheide zurück. Statt sein Gewicht mit meinen Armen aufzufangen und mit den Beinen ein wenig abzufedern, spüre ich nur einen leichten Kontakt und sehe ihn nach dem Wirbel an der Tür stehen, ich blicke nach unten. Breitbeinig stehe ich da, als säße ich auf einem Pferd, meine Arme sind über den Beinen vorgestreckt, die Handflächen zeigen nach oben, die Ellenbogen sind angewinkelt.
    »Das heißt: ›Umarme den Tiger und kehre zum Berg zurück‹«, erklärt Meister Wu nach einem Augenblick. »Übe.« Aber erst als das Madchen hinter dem Sofa hervorkommt und mir mit ungeheurem Ernst die Hand schüttelt, wird mir klar, dass ich als Schüler angenommen bin und dass irgendwie doch alles gut verlaufen ist.
    »Elisabeth ist meine Sekretärin«, erklärt Meister Wu ohne zu lachen. »Sie ist ziemlich streng, aber solange du dich ordentlich benimmst, kommst du gut mit ihr zurecht.«
    So ist es.

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