Die gelöschte Welt
verwandeln wollen. Deshalb verbringen sie Stunden, Tage und Monate damit, auf Holzbretter und mit Sandpapier verkleidete Puppen einzuschlagen, um ihre Fäuste zu härten. Sie bekommen das Gefühl, sie hätten etwas verpasst, wenn sie auch nur eine Stunde lang einmal nicht den Fuß durch einen Stapel Ziegelsteine gestoßen haben. Die Frage ist nicht, ob der Stil gewalttätig ist, sondern eher, ob diese Gewalttätigkeit direkt und kraftvoll oder subtil und indirekt zur Anwendung kommt. Für das Auge des Novizen wirken die weichen Formen zierlich, verspielt und künstlerisch, während die harten Formen brutal und erbarmungslos daherkommen. Die Wahrheit ist, dass die weichen Formen dem Körper Schmerz und Schaden mit mehr Überlegung zufügen. Was dem Objekt der Zuwendung jeweils unangenehmer ist, bliebe noch zu klären – ebenso unklar ist, welche Variante mehr gefährliche Irre aus den Vororten anlockt. Die lächelnden, knallharten Aikidoka, deren emotionslose Perfektion den Gegner rasch davon überzeugt, dass es ihnen völlig gleichgültig ist, ob er lebt oder stirbt, um ihm am Ende nach einer schnellen Drehung den Gnadenstoß zu versetzen, lasse ich rasch hinter mir. Auch die modernen, in Straßenkämpfen gereiften Vertreter des europäischen und brasilianischen Jiu-Jitsu sagen mir nicht zu. Erstere sind fröhliche Draufgänger, die meist unter einssiebzig groß und fast ebenso breit sind, Letztere sind kichernde Wahnsinnige mit einer Vorliebe für Haltegriffe und Frauen in unpraktischen Badeanzügen. Puritanisch und stolz, wie ich bin, marschiere ich ohne einen zweiten Blick aus dem Trainingsraum heraus – aber danach habe ich ein Problem. Judo ist eher Sport als Selbstverteidigung. Tai-Chi ist fließend und elegant, aber man braucht ein ganzes Leben, bis man es im Kampf anwenden kann. Die exotischeren Kampfsportarten Escrima und Silat werden in der Umgebung von Cricklewood Cove nirgendwo gelehrt und sind zudem, um ehrlich zu sein, keineswegs weicher als Karate. So wende ich mich verzweifelt an Mary Sensei, und vielleicht wirkt meine Bedürftigkeit dieses Mal stark genug.
»Ja«, sagt Mary Sensei, »es gibt noch etwas, das wir versuchen können.«
So kommt es, dass ich, zum ersten Mal ohne Gonzo Lubitsch, vor der Türschwelle von Wu Shenyang stehe und Einlass ins Haus des Stummen Drachen begehre.
»Wu spricht man wie wuuuh«, hat Mary mir seltsam atemlos vor zwei Minuten erklärt, als wir in ihrem alten VW-Käfer saßen und auf die verabredete Zeit warteten. »Shen und Yang sprichst du aus wie zwei Wörter, obwohl es nur eines ist. Nenne ihn aber nicht Wu Shenyang, sondern Mister Wu oder Meister Wu. Oder …« Ihr fällt aber nicht mehr ein, wie ich ihn noch nennen könnte, und außerdem wird es Zeit. Die Tür öffnet sich. Eine aufgeregte Stimme sagt: »Kommt herein, kommt!« Ich achte auf meine Füße und trete über die Schwelle.
Mister (Meister) Wu ist der erste Lehrer überhaupt, der mich zu sich nach Hause einlädt, und der erste Kampfsportlehrer, der mich außerhalb der Matte kennenlernen will, ehe er mich üben sieht. Mary Sensei meint, wenn er nicht in meinem Herzen fände, was er sucht, dann wäre es sinnlos, den Rest von mir zu testen. Ich denke über mein Herz nach, das für ein so großes Unterfangen viel zu verkümmert scheint. Es hat die richtige Größe und sitzt nicht, wie die Kinogänger glauben, links ziemlich weit oben im Brustkorb. Dort befindet sich in Wirklichkeit die Lunge. Vielmehr ist es ein wenig aus der Mitte verschoben und ein ganzes Stück weiter unten. Es schlägt ungefähr siebzig Mal in der Minute und pumpt in bewährter Manier lebenswichtige Nährstoffe und mittels des Hämoglobins den Sauerstoff durch meinen Körper. Doch es birgt, soweit ich das sagen kann, keinerlei Geheimnisse und trägt auch kein verborgenes Erbe oder übernatürliche Fähigkeiten in sich. Nachdem ich dank dieser Innenschau geklärt habe, dass ich nicht weiß, was dieser Herr sucht, fühle ich mich fähig, sein Wohnzimmer zu betrachten, das ich durchaus bemerkenswert finde. Neben einem Ort, an dem man sitzen, lesen und Kuchen essen kann, ist es zugleich auch eine Schatzkammer voller Fundstücke und Kuriositäten – die goldene Statue eines kriegerischen Schweins in einer Ecke, zwei Foo Dogs auf dem Kamin, Stehlampen aus verschiedenen Stilepochen, Waffen und Porzellanenten an den Wänden. Wu Shenyang nimmt mich genau in Augenschein – ich spüre, wie sein Blick auf mir ruht. Unterdessen katalogisiere ich
Weitere Kostenlose Bücher