Die gelöschte Welt
Schlussfolgerung gelangt, dass mir in Bezug auf Elisabeth Soames, aber auch auf alles andere, ein paar wichtige Informationen fehlen.
»Ja«, stimmt Elisabeth zu. »So ist es.« Aber sie erklärt mir nichts. Sie lehnt sich an die Wand des Taubenschlags (dies ist der dritte, der ihr als Wohnzimmer dient – zwei Futons und ein paar lose Kissen, ein kleiner Elektroofen mit zwei Heizspulen, den sie mit der unter uns verlaufenden Stromleitung verbunden hat, dazu noch ein paar Bilder an den Wänden) und starrt mich an.
»Ich bin fast verrückt geworden«, sagt sie schließlich. »Ich konnte das nicht mehr aushalten. Du bist nicht du – aber irgendwie bist du es doch.« Tja, das Gefühl kenne ich gut. Sie schüttelt den Kopf, rollt sich herum und zieht mich herüber, bis ich neben ihr sitze. Dann klammert sie sich an mich, als wäre ich das letzte Stück Treibholz nach dem Schiffsuntergang. Ich streichle sie zwischen den Schulterblättern, kraule ihren Rücken. Sie dreht sich, bis ein bestimmter Teil der Wirbelsäule in der richtigen Position ist, damit ich mich ihm widmen kann. Dann bewegen wir uns nicht mehr, weil jetzt alles genau richtig ist, wie lange es auch dauern mag. Die Erinnerung an eine Uhr, die Tacktick macht.
»Ich habe dich vermisst«, erklärt sie meiner Brust. Ich weiß nicht recht, wie ich das auffassen soll, denn ich kenne zwar sie, aber sie kann mich eigentlich nicht kennen. Vielleicht verwechselt sie mich mit jemand anders, mit einem Vetter von Gonzo, den sie zufällig kennt. Und mein Sprung aus den Klauen des Todes in diese zärtlichen Hände, die mich retteten, war eine Art Irrtum zu meinen Gunsten. Das sollte ihr eigentlich nichts ausmachen, aber es wäre sicher gut, die Verwirrung zu beheben, ehe etwas Unbedachtes geschieht, wie zum Beispiel weitere Küsse oder andere Tätigkeiten, die eine ohnehin schon schwierige Situation noch weiter verkomplizieren könnten. Als ich dies zögernd zur Sprache bringe, starrt sie mich an.
»Ja«, sagt sie endlich, »du bist es wirklich.« Dann erzählt sie.
Elisabeth Soames wurde als einziges Kind von Assumption und Evander John Soames im chinesischen Jahr der Ratte geboren. Das wusste ich schon, aber ich schweige, weil mir irgendwie klar ist, dass sich vieles von dem, was ich für wahr hielt, im Nachhinein als unwahr herausstellte, und wenn ich jetzt Einwände erhebe, dann erfahre ich vielleicht nie die ganze Geschichte und werde womöglich nicht einmal mehr in den Genuss der Umarmungen kommen, die ich so nett finde, zumal sie ihr genauso wichtig zu sein scheinen wie mir. Sie mochte Hüpfspiele und baute gern Sandburgen, suchte aber den Sandkasten auf dem Spielplatz im Park nur selten auf, weil Evander Soames jede Art von Gewalt verabscheute. Eines der anderen Kinder gab sich im Sandkasten einem leidenschaftlichen Kriegsspiel hin, einer eigenartigen, um sich greifenden und sich ständig weiter entwickelnden Fantasie, die dessen älterer Bruder angeregt hatte. Evander Soames bat die Stadtverwaltung, diese Übungen unter Berufung auf die Benutzungsordnung des Spielplatzes zu unterbinden, wurde jedoch überstimmt und behalf sich deshalb auf andere Weise. Bis zu seinem Tod blieb es seiner Tochter streng verboten, den Spielplatz aufzusuchen. Seine Ehefrau fand jedoch Möglichkeiten, Elisabeth den Zugang zu anderen Sandhaufen zu ermöglichen (etwa am Strand oder vor den Häusern von Freunden), um so mit anderen Kindern in Berührung zu kommen, was jedoch durch ihre Position als Leiterin der Soames School etwas eingeschränkt wurde. Elisabeth trug an dieser Bürde so schwer, als sei sie der Sprössling eines Seuchenüberträgers.
Nach dem Verdikt ihres Vaters über den Sandkasten stellte Elisabeth dessen Weisheit infrage und kam zu dem Schluss, dass Evander Soames zwar ein sehr kluger Mann sei, jedoch nicht immer über die besten Argumente verfügte, sondern es vorzog, seinen Intellekt ausschließlich auf die Verwirklichung seiner eigenen Wünsche zu richten, was sie folgendermaßen ausdrückte: »Daddy erfindet Sachen, die zwar wahr sind, aber sie sind trotzdem nicht so, wie er es sagt.« Eine bessere Zusammenfassung akademischer Haarspalterei gibt es wohl nicht. Als er infolge einer Hirnerkrankung, die gewöhnlich mit dem Genuss ungewöhnlicher Nahrungsmittel in Verbindung gebracht wird, in seinem eigenen Bett verschied, trauerte Elisabeth über ihn, wie kleine Kinder eben trauern: tief, sporadisch und ohne jegliches Gefühl für die eigene Sterblichkeit, das
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