Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
Vom Netzwerk:
Absinthhöhle mitten im Eis die Geschichte eines wimmernden alten Mannes ohne Familie, der nichts mehr zu verlieren hatte. Sein Name war Frey, und er sei vor nicht allzu langer Zeit noch ein Diener der Uhrwerksgilde gewesen. Frey trug fingerlose Handschuhe, rauchte mit der Linken und aß mit der Rechten. Als Schutz vor der Kälte hatte er einen Pelzmantel angezogen, der sogar noch schlimmer roch als der Mann selbst. Denn der Kürschner und der Gerber hatten vergessen, vor dem Nähen den Fäulnisgestank zu beseitigen. Elisabeth atmete durch den Mund und trank als Gegenmittel in kleinen Schlucken Wodka. Im Austausch gegen ein paar Runden Schnaps und eine Dose Tabak vertraute ihr Frey eine höchst geheime Geschichte an.
    Sie kehrte heim und traf Smith schließlich an einem Ort namens Harrisburg, wo er gerade einen gewissen G. William Lubitsch in Dienst nehmen wollte. Erschrocken brach sie eine feste Regel ihres Lebens und schickte Gonzo eine Nachricht: Nehmt den Job nicht an! Aber natürlich änderte die Warnung rein gar nichts. Da Smith – wie sie inzwischen mit einiger Sicherheit annahm – den Untergang des Stummen Drachen zu verantworten hatte und da Gonzo – manchmal – der Schule angehört hatte, folgte sie der Free Company bis zur Station 9, um ihn im Auge zu behalten. So beobachtete sie den Angriff des Ninja, den Augenblick meiner Erschaffung und später auch meine Ermordung.
    »Das war übel«, sagt Elisabeth Soames nachdenklich. Zu beobachten, wie ihr erster großer Schwarm einen Teil seines Selbst zu ermorden versucht und das Wrack aus einem fahrenden Truck stößt – ja, sicher war das übel. Die gute, alte Kameradin Kuh.
    Sie betrachtet mich jetzt sehr aufmerksam. Der Schnurrbart ist zum Glück wieder verschwunden, dieser ekelhafte kleine Rattenschwanz. Ihr Gesicht ist sehr hübsch. Wenn man weiß, dass eine Frau drinsteckt, ist Dr. Andromas' Kostüm sogar hinreißend, wenn auch eine Spur gewagt. Das Hemd sitzt eng und hat einen tiefen Ausschnitt. Weiße Haut, dunkle Augen. Wenn ich durch die Nase atme, rieche ich die Salben. Atme ich jedoch durch den Mund, schmecke ich sie irgendwie immer noch auf den Lippen. Ich entscheide mich für den Mund. Wir sprechen nicht. Es ist einer dieser Momente, in denen sich alles in diese oder jene Richtung entwickeln kann. Ich habe ein paar solcher Gelegenheiten im Leben verpasst, immer durch Unwissenheit oder Unentschlossenheit. Ich weiß nicht, wohin sich dies entwickeln wird. Ich weiß auch nicht, was ich will.
    »Bei solchen Rettungsaktionen gibt es eine alte Tradition«, sagt Elisabeth Soames schließlich. Sie beugt sich vor, bis ich nur noch ihr Gesicht vor mir sehe. Links spüre ich die Hitze der elektrischen Heizung, nur ihr Körper bildet eine Art Schatten, einen kühlen Fleck. Auf meiner Brust – immer noch empfindlich und kitzlig – spüre ich Dr. Andromas' Hemd und dahinter Elisabeth Soames. Sie ist leicht, federleicht, und ihr geschmeidiger Körper verlangt meine Aufmerksamkeit. Sie fährt fort.
    »Der Retter und der Gerettete erholen sich von den Qualen, der Gerettete wird ganz schwach in den Knien und sagt etwas wie: ›Aber wie kann ich das jemals wiedergutmachen?‹ Daraufhin springt der Retter auf den Geretteten und vögelt ihn voller Lust en gros und en dètail. Aufgrund der anstrengenden Begleitumstände besagter Rettungsaktion gilt dies noch nicht als echte Bindung, eröffnet aber durchaus gewisse Vorrechte und Möglichkeiten, die zu einem späteren Zeitpunkt in eine besonnene, dauerhaftere Annäherung münden können, sobald die gegenwärtige Gefahr behoben ist. Ich frage mich nur«, fährt sie fort, »ob du bereit bist, diesen schönen alten …« Weiter kommt sie gar nicht, denn ich packe sie und verschließe ihren Mund mit meinen Lippen, während ihre Hände sehr geschäftig und lebhaft werden. Sie wickelt ihre kräftigen, langen Gliedmaßen um mich, und falls nach meinen ersten Schmerzenslauten noch irgendwelche Tauben in der Nähe waren, dann haben sie nun sicherlich das Weite gesucht und warten auf dem nächsten Dachfirst, bis wir fertig sind.
    Was eine ganze Weile dauert.
    Später, als wir uns mit verschiedenen Decken und Fetzen zugedeckt haben und heiße Schokolade trinken, die wir auf dem elektrischen Ofen mit den beiden Heizelementen aufgewärmt haben, betrachtet Elisabeth meinen Arm und macht: »Huch.«
    »Hm?«
    »Du hast da ein Abzeichen.«
    »Wo denn?«
    Sie zeigt es mir. Tatsächlich habe ich einen eigenartigen Abdruck auf der

Weitere Kostenlose Bücher