Die gelöschte Welt
Erwachsene bei solchen Todesfällen zu überkommen pflegt. Außerdem ging sie schnurstracks zum benachbarten Haus eines älteren Herrn von chinesischer Abstammung und verlangte von ihm, sie in vollem Umfang in die für Angriff und Verteidigung geeigneten Gewalttätigkeiten einzuweihen, die ihm dank seiner Erfahrung zu Gebote standen. Wu Shenyang lehnte ihre Bitte zunächst ab, doch Elisabeths Erfahrung darin, alte Männer um den Finger zu wickeln, war erheblich größer als Wu Shenyangs Fähigkeit, sich den Wünschen kleiner Mädchen zu verweigern. So richtete sie sich bald darauf in seinem Wohnzimmer ein und ließ sich im Weg des Stummen Drachen unterweisen. Erleichtert wurde ihr dies dadurch, dass sich ihre trauernde Mutter, wie indirekt auch immer, dem Wohl der Gemeinde widmete, da sie den Anblick ihres einzigen Kindes als viel zu starke, aufwühlende Erinnerung an den geliebten Toten empfand. Verlustgefühle und Zuneigung sorgten dafür, dass Mutter und Tochter einander auf genau bemessenen Umlaufbahnen umkreisten, die nur durch ein großes Ereignis gestört werden konnten. Auch wenn dies wie ein kleiner Wahnsinn erscheint, der seine Nahrung aus Schmerzen bezog, so behütete sie dieses Arrangement doch vor viel größeren Qualen und erlaubte es ihnen sogar, für kurze Zeit tröstend und sich besinnend vereint zu sein, ohne dabei rührselig, rachsüchtig oder eifersüchtig zu werden oder sonst irgendeinen der irrationalen Wege einzuschlagen, auf die der Kummer gelegentlich ungerechterweise Menschen treibt, die einander eigentlich sehr lieben.
Eine große Störung war ihre erste große Liebe. Ein junger Mann, der sie in eine schreckliche Verwirrung und in den schon bekannten Kummer stürzte. Er stahl ihr Herz, ohne sich überhaupt zu vergewissern, ob er Platz für die Aufbewahrung hatte, benutzte ihre Klugheit, aber – zu ihrer großen Empörung – nicht ihren Körper, lief davon, zog in den Krieg und verliebte sich in eine Krankenschwester. (An dieser Stelle hält Elisabeth inne und sieht mich scharf an. Ihre Miene zeigt den Ausdruck, den ich mit einer tüchtigen Standpauke in Verbindung bringe. Doch wenn ich es nach zwanzig Jahren menschlicher Erfahrung betrachte, erkenne ich auch ihre Furcht darin. Ich drücke sie leicht an mich. Das war offenbar genau das Richtige, wenigstens für sie. Aber für mich ist es so schmerzhaft wie jede andere Bewegung. Humbert Pistills Fingerabdrücke prangen noch auf meinen Knochen, und ich quietsche. Elisabeth starrt mich kurz an, dann zieht sie sich wortlos zurück und verlangt, ich solle mein Hemd ausziehen. Aus dem Taubenschlag Nummer zwei holt sie ein kleines Päckchen mit Salben und Baumwolle, um mich zu betupfen.)
Als sie von meiner Verlobung hörte, stieß Elisabeth Soames in einem miesen Hotelzimmer in Gegenwart ihrer Mutter böse und eifersüchtige Worte aus. Und die Evangelistin stimmte zu, dass es nicht gut gelaufen sei. Der Bursche sei eben einfach zu wirr im Kopf, als dass man ausgiebig um ihn trauern müsse. Elisabeth sah sich gezwungen, dieser Einschätzung zuzustimmen: Er hatte noch nie etwas zu Ende gebracht, konnte sich auf nichts konzentrieren, wollte aber alles bekommen. Seine Nachdenklichkeit, die sie bewunderte, passte überhaupt nicht zu seinem vorlauten Verhalten und seiner Überheblichkeit, die sie äußerst unattraktiv fand. (Sie kippt etwas auf meine Rippen, das kalt ist und entsetzlich riecht. Falls hier noch Tauben leben, werden sie Zeugen einer schönen Auswahl von Lauten des Schreckens und Unbehagens sein. Sie reibt die Salbe in meine Haut, und die Schmerzen lassen nach. Mir wird warm, es erregt mich. Ich versuche, das Gefühl zu unterdrücken, weil es einigermaßen unangemessene körperliche Reaktionen hervorruft. So hat mich schon lange niemand mehr umarmt oder berührt – oder je nach Standpunkt vielleicht sogar noch nie. Gerade erst bin ich dem Tod von der Schippe gesprungen. Jedenfalls erzeugt all dies zusammen genommen einen Zustand, den man nur als rattenscharf bezeichnen kann. Elisabeth bemerkt es nicht, oder aber es ist ihr egal. Ihre Finger gleiten auf meiner Seite entlang, wo es am meisten wehtut. Da sie sehr sanft ist, werde ich nicht ohnmächtig.)
Auf jeden Fall hat sie Wichtigeres im Sinn. Kurz nachdem sie fortgegangen war, um zu studieren, kam Wu Shenyang bei einem Brand und durch Verrat ums Leben – niemals ist er ein Ersatzvater, sondern immer ein Mensch gewesen, dessen Geschmeidigkeit eine wahre Freundschaft über die Kluft
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