Die gelöschte Welt
Schulter. Eine Prellung, die von Humbert Pistills Schuh herrührt. Im Zentrum entdecke ich ein Symbol, fast schon ein Brandzeichen. Es ist die eingravierte Schale seines Absatzes. Aus diesem Blickwinkel wirkt es wie ein Neumond oder eine Suppenschale mit einem Löffel darin. Das habe ich schon einmal gesehen. Es ist das Symbol für Pistills Namen: ein Pistill in einem Mörser.
Im düsteren Licht von Drowned Cross glitzerte es, als wir über den Hauptplatz rasten: kein Manschettenknopf, kein Ohrring und kein Schlüsselanhänger, sondern Humbert Pistills fehlender Schuhnagel. Er war dort. Mehr als das – Monster machen keine Tagesausflüge.
»Wer ist er?«, frage ich. »Humbert Pistill, meine ich.«
»Das weiß ich nicht genau«, erwidert sie. »Ich weiß aber, wer er war.«
»Wer denn?«
»Smith«, erklärt Elisabeth.
Smith. Smith ist Pistill, und Smith ist Meister Wus Feind. Pistill ist Smith, und Pistill kann durch mich hindurchgehen, als wäre ich nicht da. Sifu Smith also. Sifu Humbert. Meister der Ninjas, die manchmal auch die Uhrwerksgilde genannt werden. Ränkeschmied. Feindlicher Planer. Der Mann, der Ninjas ausschickt, damit sie sein Werk verrichten: Gonzos Eltern töten und Gonzo selbst angreifen, während die ganze Welt brennt. Saboteur und Mörder. Die Frage nach dem Cui bono wäre beantwortet. Die nächste Frage ist: Warum?
»Erzähl mir von ihm.«
Sie tut es.
Stellen Sie sich ein Haus mit weißer Vorderfront und hohen Bogenfenstern vor. Es hat drei Stockwerke und ist wie ein Haus in einem französischen Märchenbuch mit Blauregen und wildem Wein bewachsen. Es ist alt und zu einer Zeit entstanden, als solche Häuser lediglich respektabel und nicht niederschmetternd wirken sollten, und es befindet sich noch immer im Besitz derselben Familie. Auch die Bewohner sind lediglich respektabel, und so besitzen sie keine weiteren Häuser, keine Düsenflugzeuge und keine Jachten (es sei denn, man zählt das Schlauchboot mit, das hochkant im Gartenschuppen steht). Das Haus könnte einige kleine Reparaturen vertragen – die Westmauer müsste neu gekalkt werden, und die Regenrinnen haben Lecks, aus denen bei Regen Sturzbäche schießen, die den Küchengarten überfluten und die Tomaten ertränken. Das spielt aber keine große Rolle. Durch die dicken Mauern dringt kein Lärm herein, und auch die Tomaten sind gegenüber solch unwürdiger Behandlung immun.
Einst lebte in diesem wundervollen Haus ein Junge, der einen höchst unglücklichen Namen trug. Seine Habseligkeiten bewahrte er in einer großen, mit Eisenbändern verstärkten Eichenkiste auf, die er von seiner Mutter bekommen hatte. Wenn er – was nur selten geschah – zur Schule ging, holte er einige seiner Schätze aus der Kiste und versteckte sie an sicheren Orten im ganzen Haus. Er benutzte Nischen, Ecken und Regale. Ein paar Sachen verbarg er auch unter einem losen Dielenbrett hinter seinem Schrank. Sobald er wieder nach Hause kam, ging er durch alle Räume und sammelte seine Sachen wieder ein, um sie in die Kiste zu stecken, damit er wusste, wo sie waren.
An seinem neunten Geburtstag enthielt die Kiste Folgendes: eine Krone aus Papier, eine Kalikokatze, ein Auto von Aston Martin – wie jenes, das James Bond benutzte – mit einem roten Knopf an der Unterseite, der hinten eine Metallplatte hochspringen ließ, um Kugeln abzuwehren (er hatte die Filme nie gesehen und verstand nicht, wie James Bond beim Fahren aussteigen und auf den Knopf unter dem Auto drücken konnte, aber die Erwachsenen machten sich sowieso immer nur selbst das Leben schwer, und deshalb dachte er nicht weiter darüber nach). Außerdem war noch ein altes Buch dabei, in einer Sprache, die er nicht lesen konnte, ein versteinerter Frosch, ein ungefähr kniehoher Plastiksoldat mit voller Marschausrüstung und einem Cyborgauge (mit dem man, wenn man die Klappe in seinem Schädel öffnete, sehr weit entfernte Dinge ausspionieren konnte – eigentlich sollten sie näher erscheinen, aber wegen der Marmelade auf der Linse waren sie bloß verschmiert). Es gab Zeichnungen von Drachen und Tieren, die er im Zoo gesehen hatte, einen Kompass im Metallrahmen mit einem Glasdeckel, den ihm sein Vater erst an diesem Morgen geschenkt hatte, und eine große Menge unsichtbarer Objekte, die niemand außer ihm beschreiben oder aufzählen konnte, deren Wert aber den der sichtbaren Gegenstände um ein Vielfaches übertraf.
Das Haus selbst war nicht weniger wundersam. Hinter jeder breiten Holztür lag
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