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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
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und sie ebenso zum Raum gehören wie die Porzellanenten – aber sie unterscheiden sich von den Enten, weil sie mit Vorbedacht aufgehängt wurden. Die Glocken unterscheiden sich von Meister Wus chaotischem Haushalt, weil sie umsichtig angeordnet sind.
    Elisabeth, Meister Wu und ich hängen herum. Wir haben ein ziemliches Durcheinander gegessen – Kuchen, Käse und Obst, Salamischeiben. Elisabeth und Meister Wu diskutieren über das chinesische Weltraumprogramm. Die Diskussion verläuft sehr lebhaft, und sie haben die Butterschale (der Mond), den Kuchenteller (die Erde) und eine Mango (die Sonne, zugegebenermaßen viel weiter entfernt und nicht gerade maßstabsgerecht) requiriert. Im Augenblick fuchtelt Meister Wu mit einem Löffel herum, der die Apollo-Raketen symbolisiert. Sein Hauptargument läuft im Grunde darauf hinaus, dass der Mond hoch am Himmel steht und Amerika (wie man auf Karten von Europa und Amerika sehen kann) in der oberen Hälfte der Welt liegt. Von den Vereinigten Staaten aus ist der Flug zum Mond deshalb erheblich kürzer als aus China, das (wie man auf Karten von Europa und Amerika sehen kann) in der unteren Hälfte der Welt liegt. Daher ist absolut verständlich, dass die Amerikaner den Mond vor den Chinesen erreicht haben, obwohl er China trotz aller Fehler für das fortschrittlichste Land auf der Erde hält. Die Amerikaner mussten sich einfach nicht so anstrengen.
    Elisabeth ist gleich in zweifacher Hinsicht über diese Behauptungen verblüfft. Zuerst einmal ist es ein hanebüchener Unsinn und derart verdreht, dass man eigentlich gar nichts mehr dazu sagen kann. Zweitens wird sie das bohrende Gefühl nicht los, dass ihr verehrter Lehrer ganz genau weiß, wie hirnverbrannt seine Ideen sind, dass er ihre kulturellen Vorurteile aber ein wenig auf die Probe stellt und sie eigentlich nur auf den Arm nehmen will. Sie stottert also etwas.
    Anfangs war es ein Vergnügen. Ich schaltete mich sogar ein und deutete an, die amerikanischen Raketen seien wegen der Erdumdrehung im Nachteil gewesen, und die Amerikaner hätten ein sehr schnelles Raumschiff bauen müssen, um den Mond zu erreichen, bevor er wieder vorbeigezogen war, während die Chinesen dank der größeren Entfernung viel länger Zeit hatten, Kurskorrekturen vorzunehmen. Meister Wu wischte diesen Einwand als belanglos vom Tisch, und Elisabeth schien ihn sogar als Verrat zu betrachten. So ging es hin und her, Meister Wu blinzelnd und aufreizend und Elisabeth in einem der wenigen Momente, da sie voller Zweifel war. Es macht Spaß, so etwas zu beobachten, weil es äußerst selten geschieht. Elisabeths wichtigste Eigenschaft ist die unbedingte Gewissheit. Nach der Debatte über die Position der Mango und ob sie nicht durch ein mehrere Kilometer entferntes Objekt in der Größe eines Hauses ersetzt werden solle, hörte ich nicht mehr richtig zu. Inzwischen betrachte ich den Raum mit neuen Augen oder wenigstens mit Augen, die auch die Details wahrnehmen.
    Natürlich kenne ich das alles schon. Seit ich das erste Mal die überladenen Möbel und die Waffen an den Wänden erblickte und mich in das Grammofon vernarrte, habe ich unzählige Male hier gesessen. In diesem Augenblick aber betrachte ich die Fensterrahmen, die ich bisher kaum eines Blickes gewürdigt habe. Ein langer Tag und eine Menge Gongfu, gefolgt von Kuchen (die Erde) und Tee (entweder ein irrelevanter Fehler in einem Experiment oder ein entsetzliches kosmologisches Ereignis, das sogar jetzt noch die Anziehungskräfte im ganzen Sonnensystem durcheinanderbringen könnte) hat mich in einen Zustand kontemplativer Ruhe und Aufnahmefähigkeit versetzt. Vorher beobachtete ich Meister Wus Mund und zog den Schluss, das gelegentliche Zucken seiner Oberlippe sei in Wahrheit ein Grinsen, was ich als Beweis dafür auffasste, dass er uns tatsächlich auf den Arm nehmen wollte. Dann beobachtete ich Elisabeths Oberlippe und stellte fest, dass sie ein schönes Exemplar ihrer Art ist, schlank und hellrosa und mit einer Spur Zuckerguss bedeckt. Jetzt richte ich meine Aufmerksamkeit wieder nach oben und nach draußen.
    Die Fensterrahmen bestehen aus gebeiztem, glänzend lackiertem Holz, in den Kanten klebt eine gelbe, harzige Masse. Wahrscheinlich hat das behandelte Holz im Laufe der Jahre geschwitzt. Würde ich die glänzenden Krümel berühren, dann würden sie sich glatt und ein wenig nachgiebig anfühlen, um schließlich wie Kandis zu zerspringen. Die Scheibe ist alt und ein wenig verzogen. Glas ist

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