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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
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geheimnisvoll. Mr Carmigan, der Chemielehrer, diskutierte einmal mit der Kunstlehrerin Ms Folderoi darüber. Mr Carmigan bestand darauf, das Glas sei technisch gesehen eine Flüssigkeit, die im Laufe der Jahre langsam, aber unweigerlich dem Zug der Schwerkraft folge, während Ms Folderoi widersprach, dem sei nicht so, das könne gar nicht sein. Mr Carmigan erwiderte, keiner von ihnen würde lange genug leben, um eine empirische Erhebung durchzuführen. Ms Folderoi warf mit einem Ölschwämmchen nach ihm. Die Diskussion war – genau wie diejenige, die sich jetzt vor mir abspielte – hitzig, aber freundschaftlich. Ebenso wie heute war mein Interesse an ihr eher gering. Ich betrachte wieder das Fenster.
    Meister Wu hat, was Gardinen angeht, einen eklektischen Geschmack. Das Fenster unmittelbar hinter Elisabeths blondem Kopf ist mit weißem Baumwollstoff – mit aufgedruckten Kirschen – verhängt. Der Stoff ist nicht gefüttert, deshalb bleibt der Mond (der richtige, nicht die Butterdose) dahinter zu sehen. Das Fenster hinter Meister Wu hat dicke grüne Veloursvorhänge, die winterlich warm wirken und ein Muster aus eingewirkten Goldmünzen haben. Ich drehe den Kopf herum. Das Fenster am Schreibtisch hat braune Vorhänge. Sie bestehen aus Rohseide und waren früher sicher mal sehr teuer, auch wenn sie jetzt schrecklich langweilig wirken.
    Inzwischen hat noch etwas anderes meine Aufmerksamkeit erregt. An jedem Fenster hangt eine Glockenschnur. Die Glocken sind klein, aber nicht so klein, dass sie unablässig klimpern. Diese Glocken geben, wenn sie sich bewegen, ein schrilles, lautes Klingeln von sich. Jede Glocke hängt an einem eigenen Faden, der oben mit einer dickeren Schnur verknüpft ist, die ihrerseits an einem mit dem Fensterrahmen verbundenen Brett befestigt wurde. So könnte man eine einzelne Glocke anschlagen, ohne die anderen zu stören. Wollte man aber eine Glocke entfernen, dann würden wahrscheinlich alle auf einmal schellen. Würde man das Fenster auch nur ein kleines Stückchen öffnen, dann entstünde ein Lärm wie bei einer Schlagzeugsession.
    Ich drehe mich um und betrachte die Tür. Dort sind die Glocken etwas anders angeordnet. Auf dem Ofenschirm hängt eine Konstruktion aus einander überkreuzenden Schnüren. Wenn Meister Wu zu Bett geht und den Schirm vor den Kamin schiebt, wird er von einem einfachen Einbruchsalarm geschützt. Mir wird bewusst, dass ich die Glocken und das Fenster schon oft betrachtet habe, ohne wirklich etwas zu sehen. Wie eigenartig.
    Meister Wu und Elisabeth diskutieren immer noch über die Raumfahrt, aber zumindest Meister Wu hat das Interesse daran verloren – oder vielmehr, er hat etwas Interessanteres gefunden. Meine Entdeckung hat mich wachgerüttelt. Vorher war ich so träge wie eine wiederkäuende oder nachdenkliche Kuh. Irgendwann während meiner Betrachtung der Glocken, gerade als ich aufmerksamer und konzentrierter hinschaute, ist meine veränderte Stimmung offensichtlich geworden. Meister Wu bemerkte es sofort und beobachtet mich jetzt, während er erklärt, dass selbst wenn der Mond niedrig am Himmel steht, die Chinesen immer noch zu ihm hinauffliegen müssen, während die Amerikaner einfach auf ihn hinabsinken können. Elisabeth ist aufgefallen, dass sich ihr Lehrer nicht mehr voll auf sie konzentriert und beobachtet mich nun ebenfalls. Die beiden stellen die kosmologische Diskussion vorläufig ein, und Meister Wu fragt mich, was denn los sei.
    »Nichts«, antworte ich. »Alles in Ordnung. Mir sind nur die Glocken an den Fenstern aufgefallen.«
    »O ja«, bestätigt Meister Wu nickend. »Sehr wichtig. Schließlich bin ich der Meister des Stummen Drachen. Viele Feinde.«
    »Feinde?«
    »O ja.« Er lächelt freundlich. »Aber natürlich.«
    »Was für Feinde?«
    »Oh«, macht Meister Wu, als wäre es nichts weiter. »Du weißt schon. Ninjas.«
    Dann zuckt er mit den Achseln, isst ein Stück Kuchen und wartet darauf, dass einer von uns »Aber« sagt. Elisabeth und mir ist das natürlich klar. Wenn Mister Wu etwas über Ninjas erzählt, dann klingt das so, als würde ein klassischer Cellist »Mamma Mia« auf der Ukulele spielen. Ninjas sind Blödsinn. Sie sind die Blumenelfen des Gongfu und Karate. Sie können höher als ein Haus springen und sich durch die Erde wühlen. Sie wissen, wie man sich unsichtbar macht. Sie haben die kaum fassbaren Geheimlehren absolviert (wie diejenige, die wir jetzt als Einzige kennen) und vermögen Dinge zu vollbringen, die allen

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