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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
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Weisheit. Nur Taten. Als wäre der Thron unbesetzt. China hatte zu viele Kindkaiser.
    Wer immer die Ninjas auch bezahlt hat, er glaubte, wir sähen das falsch. Die Macht sollte an einem einzigen Ort gebündelt sein, nichts sollte die bewährten Abläufe stören. Keine Alternativen. Vielleicht haben sie es auch aus eigenem Antrieb getan – die Uhrwerksgilde, die Ninjas, nenne sie, wie du willst. Und wir: der Stumme Drache. Sie und wir, auf ewig. Meine Mutter trug mich auf einem Bett aus Steinen nach Yan'an. Mein Vater lehrte mich das Gongfu, als ich drei Jahre alt war. In Yan'an lernte ich, und das ist ein schwieriger Ort. Schon vorher hatte ich das Schweigen gelernt. Meine ersten Lehrer waren die Ninjas.«
    Wäre Meister Wu ein ergrauter, älterer Lastwagenfahrer oder ein Veteran aus großen Kriegen gewesen, so würde er sich jetzt eine Zigarette anstecken oder unsere Hände fassen und uns erklären, wir Kinder hätten Glück gehabt. Das tut er aber nicht. Er seufzt nur wieder, und irgendwie kann ich die Trauer, die von ihm ausgeht, fast körperlich spüren. Ich habe Leute beobachtet, die mit ihrer Wut rangen und sie in eine körperliche Kraft verwandelten. Ich habe noch nie jemanden erlebt, der dies mit seinem Kummer hätte tun können.
    Ich sehe mich um. Während wir geredet haben, ist es Nacht geworden. Das Fenster zur Terrasse steht offen, und ich lausche auf verstohlene Schritte auf den Brettern draußen. Unten in Meister Wus Garten schnüffelt etwas im Gebüsch. Ich weiß nicht, ob Ninjas schnüffeln. Mir scheint, ein besonders raffinierter Ninja könnte schnüffeln, um den Eindruck zu erwecken, er sei nur der Hund des Nachbarn, oder um das Opfer merken zu lassen, dass er da ist, und es so einzuschüchtern. Andererseits würde ein Ninja einen solchen Trick vielleicht als amateurhaft bezeichnen.
    Ich versuche, mich zu entspannen, um nicht mit verkrampften Schultern auf den Angriff reagieren zu müssen, der sicher bald kommt. Das ist in einem so großen, bequemen Sessel aber äußerst schwierig, und ich fühle mich wie ein Idiot, weil ich mich für das bequeme Möbelstück entschieden habe. Elisabeth sitzt auf einem schlichteren Möbelstück mit harten Polstern und muss sich deshalb nur abrollen oder aufspringen, um zu allem bereit zu sein. Meister Wu benutzt einen Schaukelstuhl, dessen Bewegung er allerdings mit dem Gehstock angehalten hat. Es gibt viele Möglichkeiten, aus einem Schaukelstuhl schnell in eine Bewegung zu kommen. Nur ich werde der Dumme sein, viel zu bequem eingeklemmt und deshalb unbeweglich oder, noch schlimmer, behindert von meinem dicken Arsch. Ich habe nicht aufgepasst. Andererseits befinden sich die beiden besseren Kämpfer dank meiner klugen Wahl in einer günstigeren Position. Vielleicht bin ich unbewusst ein Meister der Taktik.
    »Als ich fünf war«, fährt Meister Wu fort, »habe ich eine Ninjafalle gebaut.« Der Kummer verschwindet, und etwas Warmes erfüllt ihn: ein alter Stolz, den er in all den Jahren nicht vergessen hat.
    »Ich war draußen im Wald und hatte das Wild aus den Schlingen geborgen. Kaninchen. Im Schlamm entdeckte ich Fußabdrücke. Die Ninjas kamen aus dem Wald und beobachteten uns in der Nacht. Sie wollten uns wissen lassen, dass sie uns ständig beobachteten, damit wir bei allem, was wir nach Einbruch der Dunkelheit noch tun würden, Angst hatten. Jetzt war es Tag, und ich dachte, ich sollte auf dem Weg vielleicht eine große und starke Falle bauen und einen Ninja fangen, damit meine Mutter keine Angst mehr haben musste. Möglicherweise würde mir mein Vater sogar einen anerkennenden Blick schenken, wie er es manchmal tat, wenn ich mir in seiner Gerberei Mühe gab oder wenn ich meine Figuren noch einmal übte, nachdem er mir gesagt hatte, ich könne aufhören. Vielleicht würde er sogar grunzen. Mein Vater lachte, wenn er etwas für komisch hielt, und lächelte, sobald er glücklich war. Aber wenn ihn etwas beeindruckte, dann grunzte er. Ich brachte ihn nur selten zum Grunzen. Deshalb borgte ich mir ein wenig Werkzeug und machte eine große, weite Schlinge aus feuchtem Leder, bedeckte sie mit Schlamm und Blättern und verband sie mit einem großen, alten Baumstamm. Sobald ein Ninja die Schlinge berührte, würde ihn der Stamm hochreißen, bis er in der Luft hing.«
    Er zuckt mit den Achseln.
    »Es war eine sehr schlechte Ninjafalle. Vielleicht hätte ein alter, dummer Ninja hineinstolpern und auf den Bauch fallen können, weil er vor Lachen über meine Falle nicht

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