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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
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anderen wie Magie erscheinen. Genau darauf will Meister Wu hinaus. Er macht sich über uns lustig.
    Bevor sich die Verlegenheit, die schon an meiner Wirbelsäule emporsteigt, auch im Gesicht zeigt, sagt Elisabeth: »Aber.« Ich werde sie ewig lieben.
    »Aber …«
    »Ninjas sind Quatsch?«, ergänzt Meister Wu.
    Wir nicken.
    »Ja«, sagt er. »Ganz albern. Schwarze Pyjamas tragen und Kugeln ausweichen. Ich weiß. Aber das Wort ist nicht das Gleiche wie die Sache. Das Wort ist ohnehin falsch.« Er hält inne und lehnt sich zurück. Seine Stimme wird tiefer, die Fröhlichkeit und Derbheit des alten Mannes verschwindet, und er wirkt auf einmal viel nüchterner und älter.
    »In der Nacht, in der ich geboren wurde, versteckte sich meine Mutter in einem Brunnen unter dem steinernen Deckel. Ich kam bei Lampenlicht zur Welt und nahm als Erstes den Geruch von Schlamm, Ruß und Blut wahr. Mein Vater und ein Viehhirte halfen bei meiner Geburt, weil wir keinen Arzt hatten. Meine Onkel schlugen auf dem Platz des Dorfes, in dem wir rasteten, ein Schwein tot. Sie ließen es sieben Stunden schreien, bis der Morgen kam, damit niemand bemerkte, dass eine Frau ein Kind zur Welt brachte. So musste meine Mutter ihre Schreie nicht unterdrücken. Vier Tage trugen meine Onkel sie auf einer Bahre umher und erklärten allen, ihr Freund Feihong sei krank. Sie hatten drei Monate lang so getan, als sei sie ein dicker Mann. Zuerst hatte sie einen Sack mit Steinen auf dem Bauch, die sie nacheinander fortwarf, als ich wuchs, sodass die Leute immer nur den dicken Feihong mit seinen komischen Armen und den dürren Beinen und den kleinen Füßen sahen. Meine Mutter hatte Füße, die nicht der Mode entsprachen. Zu groß für eine Frau, aber für einen Mann immer noch zu klein. Nach vier Tagen konnten sie meine Mutter jedoch nicht mehr tragen, denn sonst hätten die Leute etwas bemerkt und vielleicht gefragt, ob Feihong nicht doch unter einer schweren Krankheit leide und ob sie ihn nicht lieber zurücklassen wollten. Da stand sie von der Bahre auf und lief und trug mich in einer Schlinge, so wie sie vorher immer die Steine getragen hatte. Ich lernte, ein stilles Baby zu sein, und weinte so gut wie nie. Wenn ich weinte, sang sie sehr laut und schief wie ein Mann, der wie eine Frau zu singen versucht. So nannte man sie den quietschenden Feihong. Meine Onkel und mein Vater sangen mit ihr. Katzenjammer Wu, Affenkreischer Wu und Ziegenblöker Wu, man hörte sie kilometerweit kommen. Die Bauern behaupteten, wir machten die Milch sauer. Immer mussten wir uns verstecken. Wir waren die Letzten vom Stummen Drachen, wir mussten weglaufen und uns verbergen, indem wir so laut wie möglich waren.
    Warum? Wegen der Ninjas. Es waren keine solchen Ninjas wie die in den Filmen aus Hongkong. Sie konnten nicht fliegen und kaum einer Kugel ausweichen. Aber … aus dem Dunkeln zuschlagen? Im Dunkeln töten? Das konnten sie sogar sehr gut. Vor langer, langer Zeit hat jemand sie bezahlt und ihnen befohlen, meine ganze Familie zu töten und das Gongfu meines Urgroßvaters auszulöschen. Sie haben nie aufgehört, sie versuchen es immer wieder. So sind sie eben. Ein ewiger Krieg. Der älteste Bruder meines Vaters. Seine Kinder, ihre Mutter. Alle tot, bevor ich geboren wurde.«
    Meister Wu seufzt.
    »Damals haben in China viele Leute Krieg geführt. Es war Neunzehnhundertvierunddreißig. Tschiang Kaischek jagte Mao durch das ganze Land. Wir versteckten uns beim Langen Marsch zwischen Maos Leuten. Tausende von Meilen, über Berge und Seen. Unser Krieg verschwand in ihrem Krieg. Als sie starben – vielleicht, weil die Ninjas sie statt uns töteten –, war der Krieg vorbei. Damals starben alle.« Er zuckt mit den Achseln und betrachtet die Waffen an der Wand. Ich hatte angenommen, er sei stolz auf die Waffen. Jetzt denke ich, sie waren vielleicht als Erinnerung aufgehängt. Ich glaube, sein Stolz auf die äußerst hässlichen Enten ist größer als jener auf die Waffen.
    »Ihr Krieg«, fährt Meister Wu fort, »drehte sich darum, die Herrschaft zu erlangen. Unserer drehte sich natürlich darum, am Leben zu bleiben, aber er hatte auch mit der Freiheit zu tun, entscheiden zu können. Das ist im Grunde das Gleiche. Wir lehren Gongfu, damit du dich entscheiden kannst. Ansonsten … der Mann an der Spitze hat die ganze Macht. Ja? Und … was, wenn er kein Mann ist? Hundert Leute verneigen sich vor einem Kind, das alles tun kann, was es will. Keine Verantwortung, nur Macht. Keine

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