Die gelöschte Welt
an sich halten konnte, und hätte sich dabei sogar verletzt. Wäre er in die richtige Richtung gefallen, dann hätte er vielleicht sogar einen Fuß in die Schlinge gestellt und wäre tatsächlich gefangen worden. Aber wenn er dann endlich wieder zu Atem gekommen wäre und nicht mehr gelacht hätte, dann hätte er sich einfach mit einem Messer befreit und wäre verschwunden. Ninjas sind ja keine Kaninchen.
Doch in dieser Nacht wachte ich auf, weil auf einmal ein Ninja in meinem Zimmer stand. Er starrte auf mich herab und sagte:
›Ich heiße Hong. Du kannst mich Meister Hong nennen. Wie heißt du?‹
Ich sagte ihm meinen Namen, und er antwortete:
›Weißt du, wer ich bin?‹
Darauf sagte ich, er sei xiong shou, ein Meuchelmörder. Denn bis dahin hatte ich noch nie etwas von Ninjas gehört. Er lachte.
›Ich bin Sifu Hong von der Uhrwerksgilde. Wir sind die Söhne von Tigern. Wir sind die Hoffnung Chinas – die Hoffnung der ganzen Welt. Wir vertreten die Ordnung. Du aber – du bist der kleine Junge, der uns Fallen stellt.‹
Ich schwieg dazu, weil ich Angst hatte. So fuhr er fort: ›Kinder jagen keine Tiger, mein Junge. Tiger jagen Jungen.‹ Das war den Tigern gegenüber nicht fair, weil nur Ninjas Kinder jagen. Dazu sagte ich nichts. Ich hatte zu große Angst, um mich zu bewegen, ich konnte nicht schreien und nicht einmal pinkeln, was ich eigentlich unbedingt tun wollte. Er sagte:
›Wir sind wegen deines Stolzes zu dir gekommen. Am Ende kommen wir immer. Du hast Glück. Wir lassen dich nicht warten. Denn am Ende kommen wir immer.‹
Dann zog er ein kleines Messer heraus, gerade in der richtigen Größe, um es bei einem sehr teuren Festessen unter der Kleidung zu verbergen. Oder um einem kleinen Jungen die Adern aufzuschneiden. Ich bereitete mich innerlich darauf vor, die Klinge auf meinen Knochen knirschen zu hören und mein warmes Blut hinausspritzen zu sehen, um bald danach herauszufinden, welches Schicksal Kinder im Jenseits erwartet. Auf einmal – ihr müsst verstehen, dass ich sehr überrascht war und einen Augenblick lang sogar dachte, es gehörte zu seinen Vorbereitungen, um mich zu töten – zuckte sein linker Fuß hoch in die Luft, und er flog in den Flur hinaus. Das Messer fiel in meinem Zimmer auf den Boden. Dann gab es einen schrecklichen Schrei, und danach war es still. Schließlich kam mein Vater in mein Zimmer und trug mich in den Flur hinaus. Dort war mein Ninja, am Fuß aufgehängt und mit einer großen Lederahle in der Brust. Er hing in der Schlinge einer Ninjafalle, die meiner eigenen ganz ähnlich war. Mein Vater nahm mich bei den Schultern und sagte: ›Was hast du falsch gemacht?‹
Ich dachte darüber nach und wollte schon sagen, es sei dumm von mir gewesen, mich in Erwachsenenangelegenheiten einzumischen, und ich hätte ihn vorher fragen müssen, ehe ich versuchte, einen Ninja zu fangen, oder dass ich nicht richtig über die Natur meiner Beute nachgedacht hatte und die Falle nicht zum Fangen, sondern lieber zum Töten hätte einrichten sollen. Vielleicht hätte ich auch einfach nur weinen sollen, weil ich so erleichtert war. Mein Vater wiederholte die Frage, und endlich sagte ich, ich hätte eine funktionierende Falle gebaut, sie aber an der falschen Stelle ausgelegt. Mein Vater dachte darüber nach, sehr lange und sehr angestrengt, denn er schwieg die ganze Zeit, während wir den Ninja abschnitten und seinen Leichnam auf den Dorfplatz schleiften. Als wir nach Hause gingen, blickte er noch einmal zum Platz zurück und dann auf mich herab. Und er grunzte.«
Meister Wu lächelt, hebt die Hände wie Bruce Lee und sagt: »Heeyayaya-HAI!« Dann wirft er mit der Papierserviette nach Elisabeth. Sie wehrt sie mit der flachen Hand ab und macht »Pfft«, was in etwa dem Geräusch entspricht, das Hände, die als tödliche Waffen verwendet werden, in Filmen machen. Dann rollt sie sich vom Stuhl ab und wirft mit einem Kissen nach mir. Ich beschließe, mich treffen zu lassen, und breite die Arme weit aus, um anzudeuten, dass ich ausgeschaltet bin. Meister Wu grinst.
»Er tut nur so! Er hat den Totstell-Gongfu-Trick noch nicht richtig gelernt!«
So beginnt ein fröhlicher Abend, an dem wir alle viel Spaß haben, bevor wir den Teetopf ausspülen und uns auf den Weg machen müssen. Inzwischen sind wir fast sicher, dass Meister Wus Ninjas einer seiner albernen Scherze sind, genau wie die Mangosonne und die chinesische Raumfahrt.
Ich bin von meiner kleinen Welt ganz und gar eingenommen und
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