Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
Vom Netzwerk:
davongetragen hat) in die Kehle des Professor Idlewild zu rammen, um die Zufuhr von Sauerstoff zu ermöglichen.
    In all der Verwirrung ergeht es mir wie Harry Callahan, und ich vergesse mich ganz und gar, beginne zu plaudern und freunde mich mit der aparten Frau an, die mir gegenübersitzt. Es stellt sich heraus, dass sie Beth heißt, aus Herringbone stammt und soeben ihren Freund verlassen hat, weil er sich nebenbei mit einer Tänzerin namens Boots getroffen hat. Als sich Professor Idlewild weit genug erholt hat, um sich wieder am Gespräch zu beteiligen, habe ich schon einige Lösungsansätze für die schwierige Frage entwickelt, über die wir uns unterhalten könnten, wenn wir in einigen Tagen etwas trinken gehen. Über Politik natürlich.
     
    Die Politik ist in Jarndice sehr in Mode, weil dieses Thema – abgesehen davon, dass es von Ye Ordinanses mit äußerster Strenge als Gesprächsthema geächtet ist – lebhafte Debatten, leidenschaftliche Schreiwettkämpfe und das Einnehmen absurder, unhaltbarer Positionen provoziert, was für studentische Maulhelden und überzeugte Selbstdarsteller ideal ist. Brennpunkt des Tages ist das Problem Addeh Katir.
    Addeh Katir ist ein kleines Land, das sich mit einer Reihe großer Nationen angelegt hat. Es ist zugleich gemäßigt und tropisch, farbenfroh, üppig und prächtig. Eine große Seenkette läuft mitten durch das Land (das größte Gewässer ist der Lake Addeh, der einen stillen Ruhm genießt, weil sein Wasser, so es zum Teekochen verwendet wurde, viele Jahre lang als der letzte Schrei galt), und seine fruchtbaren Landstriche sind von den schützenden Gipfeln der Katirberge umringt, die dem Land den Namen gaben und vom Himalaja aus nach Osten vorstoßen, um den Lake Addeh und seine kleineren Gefährten zu umarmen, als wollten sie die Gewässer um jeden Preis festhalten.
    In politischer Hinsicht kann man Addeh Katir am besten beschreiben, indem man es als gebrochen bezeichnet. Es gab viele gescheiterte Staaten, aber dieser ist regelrecht verwüstet worden. Dank der recht einzigartigen Umstände seiner Gründung gab es keine inneren ethnischen Spannungen. Die Einwohner des heutigen Addeh Katir stammen von verschiedenen klugen Seelen ab, die nicht nur des endlosen Pendelns zwischen Massaker und Friedensvertrag in ihren eigenen Ländern überdrüssig waren, sondern auch des eigenartigen Verbots fermentierter Getränke, das von buddhistischen, moslemischen, christlichen und hinduistischen Spielverderbern und einigen anderen Sekten und Kulten erlassen wurde, die nichts Wichtigeres im Sinn hatten, als eine religiöse Prohibition durchzusetzen. So flohen die Menschen aus den Ländern, die heute China, Tibet, Pakistan und Indien heißen, und eilten in die Katirberge, um sich zu verstecken und (wir wollen ehrlich sein) zu betrinken. Am Lake Addeh angekommen, stellten sie fest, dass die gesamte einheimische Bevölkerung durch eine Variante der Röteln dahingerafft worden war, gegen die sie sich weitgehend immun zeigten.
    So stießen sie auf eine vorgefertigte Nation, die sie nur noch mit Leben erfüllen mussten, teilten das reichlich vorhandene Land so gerecht auf, wie sie nur konnten, und richteten sich auf ein beschauliches Leben ein. Als Anführer wählten sie einen kleinen Adligen, der wegen nicht überlieferter, aber zweifellos geringfügiger Sünden aus seiner Heimat vertrieben worden war, und sagten ihm im Grunde nur, er solle ihnen nicht zu sehr auf die Nerven gehen, was er so wenig tat wie sein Sohn, sein Enkelsohn und so weiter. Die Tradition wohlwollender Gleichgültigkeit blieb bis in die Neuzeit ungebrochen. Die Sprachen vermischten sich ebenso wie die Gene, und nach ein paar Generationen hatten sie vergessen, dass sie jemals aus einer anderen Gegend gekommen waren. Die Briten eroberten Addeh Katir mehr nebenbei, betrachteten die Infrastruktur und stellten fest, dass die Katiris so ziemlich jede Flagge aufziehen würden, solange sie nur weiterleben durften wie bisher. Einige gelangweilte Damen und Herren des Empire beschäftigten sich eine Weile damit, jugendliche Katiris über hölzerne Treppen und gewienerte Veranden zu scheuchen. Aber damit – und mit der Übernahme des Englischen als zweite Amtssprache in Addeh Katir – war das Ausmaß des Leidens unter dem imperialistischen Joch auch schon so gut wie erschöpft. Die Tätigkeit des Kolonialherren macht nicht viel Spaß, wenn man keine Verbesserungsmöglichkeiten findet und das Land sich selbst so gut regiert,

Weitere Kostenlose Bücher