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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
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schrecklich besaufen. Ich trage eine geliehene blaue Samtjacke mit silbernen Borten, die im Nacken kratzt und stark nach alter Katze riecht. Bekleidet wie ein billiger Polonius, aber gerüstet mit den Manieren, die ich an Ma Lubitschs Tisch gründlich gelernt habe, verzichte ich drauf, den Fluss ineinander verwobener Geschichten, die sich um die Früh-neuenglische Vokalverschiebung und den Niedergang der klassischen Gelehrsamkeit seit Hadrian drehen, unhöflich zu unterbrechen. Ich finde mich mit dem Rinderbraten ab, lächle die Frau mit den feinen Gesichtszügen an, die mir gegenübersitzt, und warte darauf, dass Professor Idlewild die Puste ausgeht. Dies tritt schließlich ein, als der Nachtisch aufgetragen wird, und zwar nicht allmählich, sondern schlagartig. Er hält schaudernd inne und beugt sich über den Esstisch, als suchte er einen bestimmten Teil seines Kopfes, den er später noch essen will. Seine Nase berührt die Tischplatte, und darunter haucht sein Atem zwei unregelmäßige Kegel – unregelmäßig darum, weil er den Kopf leicht zu mir gedreht hat. Zugleich packt er mit beiden Händen die Tischkante. Ich sehe die Frau mit dem aparten Gesicht an, die auf Idlewilds anderer Seite sitzt, doch ihre Miene zeigt nur leichte Verunsicherung und die ersten Regungen einer Sorge, die sich auch in meinem Gesicht spiegeln dürfte. Mittlerweile halte ich es für durchaus vorstellbar, dass Professor Idlewild eine Art Herzanfall hat oder ihn gerade bekommt, und mir wird bewusst, dass ich keine Ahnung habe, was man in einem solchen Fall zu tun hat und nicht einmal zuverlässig entscheiden könnte, ob es sich tatsächlich um ein solches Ereignis handelt. Innerlich bleibe ich zudem völlig unbeeindruckt von der Tatsache, dass er sich womöglich entschieden hat, direkt vor mir, im Beisein all dieser Leute, sein Leben auszuhauchen, obwohl mich dies unweigerlich auf eine Weise brandmarken würde, die ich noch nicht einmal annähernd zu ermessen weiß.
    Professor Idlewild fährt in einer Wolke von Schuppen zurück, sitzt kerzengerade da, starrt ins Leere und steht offenbar unter Schock. Er gurgelt ein wenig, dann krümmt er sich, schlingt die Arme um seinen Oberkörper und stößt eine Art Bellen oder Kläffen aus. Entweder er stirbt oder irgendein göttlicher Animus ergreift gerade Besitz von ihm. Ersteres wäre tragisch, aber eigentlich auch ziemlich verrückt, und Letzteres würde ein tiefes Nachdenken über das Wesen einer Gottheit auslösen, die als Botschafter, und sei er nur ihr bescheidenes Vehikel in dieser Welt, einen kurzatmigen akademischen Volltrottel mit einer kleinen, aber widerlichen Hautkrankheit auswählt. Nervös sehe ich mich um, ob jemand in der Nähe weiß, was zu tun ist. Aber niemand achtet darauf. Dieses völlige Fehlen jeglicher Aufmerksamkeit – jedenfalls von allen, die schon länger in Jarndice sind, denn die Neuzugänge am Tisch fühlen sich in ihrer Haut nicht wohl – ist ein wichtiger Hinweis. Auch der Butler, der neben mir steht, bleibt äußerlich unbewegt. Da sich sein Lehrer in diesem Augenblick an die Ohren fasst und fest zieht, bis er an einen Flughund erinnert, dessen Flügel in helles Licht geraten sind, und da dies den Butler überhaupt nicht zu beunruhigen scheint, ziehe ich den Schluss, dass Laienkanzler Professor Idlewild an irgendeiner Art von Anfall leidet, den man höflicherweise ignorieren sollte. Offenbar geht die Höflichkeit sogar so weit, dass niemand es auch nur im Entferntesten für nötig hielt, im Vorfeld eine Warnung auszusprechen oder einen Kommentar abzugeben, um zu verhindern, dass ein unwissender Neuzugang aufspringt und etwas unternimmt. Ich bin äußerst dankbar, dass ich hier sitze und nicht Gonzo, der jetzt endlich die Situation wahrgenommen hat und zu einem riesigen Sprung ansetzt, um einen Luftröhrenschnitt durchzuführen. Doch besitzt er genügend Intelligenz, um rechtzeitig zu erkennen, dass ich, der ich dem Notfall am nächsten bin, mich offenbar entschlossen habe, überhaupt nichts zu unternehmen, und dass es dafür einen stichhaltigen Grund geben müsse. So bleibt es mir erspart, meinen besten Freund so holterdiepolter über den eichenen Esstisch rennen zu sehen, dass das Porzellan aus dem neunzehnten Jahrhundert in alle Richtungen davonfliegt, und einen silbernen Dekantiertrichter aus der Arts-and-Crafts-Periode (wahrscheinlich um 1900, gut gearbeitet, wenngleich kein sehr schönes Exemplar, da er durch achtlosen Gebrauch einige Kratzer und Dellen

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