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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
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riecht auch ein wenig nach Aas: ein riesiges Meereswesen schaukelt auf der zehn Meter hohen Dünung und wird von Möwen zerlegt. Es ist genau der richtige Abend, um ein junger Mann zu sein. An so einem Abend kann man sich das Hemd vom Leib reißen, den Himmel anheulen und losrennen, die Feuchtigkeit auf der Haut spüren und sich nicht um die Kälte kümmern. In einer solchen Nacht fließen Wein und Whisky in Strömen, ein Feuer tost, und nach einem wilden Tanz sinkt man in die Arme irgendeines Mädchens oder schließt Freundschaften, die ewig halten. Leider nehme ich an einer Veranstaltung teil. Auf meiner Bude angekommen (es ist kein Zimmer, keine Stube und auch keine Unterkunft) öffne ich meinen Koffer, baue meine Musikanlage auf, womit das Auspacken auch schon weitgehend erledigt ist, und gehe geradewegs zum Immatrikulationsdinner, das den ersten Punkt auf einer fast unübersehbaren Liste traditioneller Veranstaltungen bilden sollte, die man allesamt am besten diskret ignoriert. Die Gäste des Immatrikulationsdinners wissen das allerdings noch nicht, und so ergeht es mir wie allen anderen Neulingen. Wir starren den kahlen Fleck auf Phillip Idlewilds Kopf an und fragen uns, ob die bleichen, unappetitlichen Krümel, die jedes Mal herunterflattern, wenn er sich mit den Fingern durch die zwei oder drei verbliebenen Strähnen fährt, von einer ansteckenden Krankheit herrühren, eine harmlose Folge fortgeschrittenen Alters oder die Reste von irgendetwas sind, das er eigentlich hatte essen wollen.
    Professor Idlewild kann nicht sprechen, wenn er – oder zumindest sein Kopf – sich nicht in der Horizontalen befindet. Wenn er eine Aussage besonders betonen will, dann schneidet er eine Grimasse, bis er einen wie eine in Leidenschaft entbrannte Schleiereule anstarrt und nickt, wobei sich die Sehnen im Hals zwischen den Hautfalten deutlich abzeichnen. Meistens aber richtet er seine wortreichen Ergüsse auf die Patina des Esstisches. Ein vertikaler Schnitt durch Laienkanzler Idlewild, der dort beginnt, wo bei einem normalen Menschen die Augen links und rechts der Symmetrieachse liegen, würde vermutlich eine Ansammlung völlig verdrehter innerer Organe und Knochen zum Vorschein bringen, die insgesamt die Form eines Fragezeichens bilden, was jedoch für einen Mann, dessen Interpunktion anscheinend ausschließlich aus Ausrufezeichen besteht, höchst unpassend wäre. Als der Butler (ein Doktorand, der sich mit industriellen Konfliktlösungsstrategien beschäftigt) den Fischgang serviert, entlässt Idlewild einen weiteren Schauer von Hautstückchen oder abgestorbenen Pilzsporen in das Butterschälchen und wendet sich nach einigen marionettenhaften Zuckungen an mich.
    »Mr Lubitsch! Willkommen in Jarndice. Wie ich hörte, können wir große Dinge von Ihnen erwarten.« Er lächelt. »Versuchen Sie doch bitte, ein Mindestmaß an Interesse für Landwirtschaft und Agrarwissenschaften zu zeigen, das würde die anderen sehr freuen!«
    Ich muss ihm erklären, dass er Gonzo meint, nicht mich. Zu meiner Überraschung schenkt er mir daraufhin ein horizontales Lächeln.
    »Mein lieber junger Mann«, sagt er, »das tut mir aber wirklich sehr leid.« Er überlegt einen Augenblick. »Oh, dann sind Sie der andere!«
    Ja, der bin ich. Unter all den Studenten hier bin ich der einzige Andere. Idlewild grinst und kehrt zu seinem vorherigen Gesprächspartner zurück. Ich suche mit Blicken Gonzo, um ihn zu hassen, und finde ihn, ausnahmsweise schweigsam und gedankenverloren, zwei Stühle weiter auf der anderen Seite. Rechts neben ihm sitzt ein strahlend schönes Mädchen, das mit ihrem Gegenüber und dessen Nachbarn in eine Unterhaltung über Kristallstrukturen vertieft ist, und zu seiner Linken hat eine Dame vom Typ der Evangelistin Platz genommen, mit harten Augen, die sich ihm, als sie Platz nahmen, laut und vernehmlich vorstellte als »Doktor Isabel Lamb, und ich verabscheue attraktive junge Männer«. Ob dies nun stimmt oder nicht (ich habe den Verdacht, dass es nicht wahr ist, und Gonzo hätte es als Herausforderung auffassen sollen), es hat ihn auf dem falschen Fuß erwischt, und er hat sie einfach aus seiner Welt verbannt. Dr. Lamb unterhält sich inzwischen mit dem Mann neben ihr über katastrophale Fehlkonstruktionen von Hängebrücken, und Gonzo hat sich innerlich so gut wie abgemeldet. Ohne Publikum, vor dem er strahlen kann, muss Gonzo tief blicken, um sich selbst zu finden. Das tut er gerade, aber im Durcheinander und Geplauder der

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