Die gelöschte Welt
sei unsere Schuld.
»Sie sind aber kein richtiger Repräsentant, oder?«
»Bei Gott, nein«, erwidert Freeman. »Wir repräsentieren überhaupt nicht.«
Iggy lehnt sich zurück, nachdem er das Haar in dieser gefährlich perfekten Suppe gefunden hat.
»Nein«, fährt Freeman ibn Solomon fort, »wir sind eine partizipatorische Demokratie. Alle sind an allen Entscheidungen beteiligt … wenn genügend Zeit bleibt. Ansonsten hat der Bey das Recht, als Exekutive zu handeln, damit wir nicht im Schlaf überrumpelt werden. Aber Gesetze haben wir nicht.«
Iggy starrt ihn an. Sebastian schlägt hinter seinem Wodka Tonic die Augen auf und schaut interessiert herüber. Aline stammelt etwas.
»Keine Gesetze?«, hakt sie nach.
»Nein«, antwortet Freeman ibn Solomon. »Das Gesetz ist ein Fehler. Es ist der Versuch, viele Dinge niederzuschreiben, die sowieso jeder wissen sollte. So etwas haben wir nicht. Von uns allen wird erwartet, dass wir uns vernünftig verhalten und bereit sind, die Konsequenzen unserer Taten zu tragen. Das ist«, fügt er hinzu, »gar nicht so unangenehm, wie man glauben mag.« Er trinkt einen Schluck Whisky.
»Führt das nicht zu Korruption?«, fragt Aline.
»Oh, gewiss«, sagt Freeman ibn Solomon. »Ich meine, in gewisser Weise kann man es schwer erklären. Wir sind eine Piratennation, deshalb haben wir auch keine formelle Regierung. Aber es stimmt schon, jeder ist sich zunächst mal selbst der Nächste. Andererseits kann man auch jeden zur Rechenschaft ziehen. Es gibt immer einen, mit dem man streiten kann.« Er zuckt mit den Achseln. »Wenn man sich eine Regierungsform gibt«, sagt er, »entscheidet man sich zugleich für ein Gift. Dies ist unseres.«
Er wirkt enttäuscht, dass die Diskussion zu anderen Themen abschweift. Schließlich setzt sich Quippe ans Klavier, und wir haben das Privileg, den Generalbevollmächtigten mit Aline und einem Mädchen namens Yolande, das sich den halben Kopf rasiert hat, den Cancan tanzen zu sehen.
Als sich auf dem Campus herumspricht, dass wir einen Mann aus Addeh Katir zu Gast hatten, nehmen uns alle Abweichler und Dissidenten auf einmal als Sphäre der Freidenker ernst. Ich hole neue Themen und neue Sprecher ins Cork, einige sind freundlich, andere nicht, aber ich bin der Held, und jeder neue Sprecher scheint Aline schärfer zu machen, bis die Handschellen des unterdrückerischen Systems fast verschlissen sind und wir neue klauen müssen. Addeh Katir verschwindet wieder aus der öffentlichen Wahrnehmung, weil die Verhandlungen in eine Sackgasse geraten. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen weigert sich, der Bitte von Zaher Bey zu entsprechen und eine Schutztruppe zu entsenden. Im Cork entsteht beinahe ein Schisma über die Frage, ob dies ein Schritt in die richtige Richtung sei (weg von der quasi-totalitären kulturellen Hegemonie) oder völlig falsch (hin zu einem isolationistischen Wirtschaftsimperium). Der Streit wird mit einer Schaumparty beigelegt. Das Leben geht weiter.
In Erwinville setzt der seit dreißig Jahren amtierende Präsident seinen Streifzug durchs Kamasutra fort.
Um den Lake Addeh schafft Zaher Beys Fraktion durch einen Schwarzmarkt, der effizienter und humaner funktioniert als die legale Wirtschaft, eine Zone der Ordnung und eine brauchbare Infrastruktur.
Aline rasiert sich das Schamhaar, um gegen den Pelzhandel zu protestieren. Trotz dieser Ablenkung schaffe ich es, mich durch die Prüfungen zu wühlen.
Gonzo bekommt von Ma Lubitsch ein Carepaket mit so viel Essen und Trinken in unterschiedlichen Varianten, dass er unmöglich alles in seiner Unterkunft verstauen kann. Die Hafermehlbaisers mit Erdbeeren mag ich besonders.
Die Idylle dauert an, bis eines Morgens – ich sitze gerade am Kaffeetisch, arbeite mich durch meine Biologieaufgaben und höre nur mit halbem Ohr zu, wie Sebastian Quippe erzählt, dass »Bewegungsfreiheit und Geschwindigkeit der Kommunikation als Wesensmerkmal der Postmoderne zwar den Untergang der Gegenwärtigkeit gebieten, aber keineswegs rechtfertigen« – Kerle mit Sturmhauben explosionsartig – und das ist wörtlich gemeint, weil ihrer Ankunft eine solche Detonation aus Licht und Lärm vorausgeht, dass mir die Nase juckt und meine Ohren bluten – durch die Küche des Butlers in die Bar hereinplatzen, uns alle mit Wucht auf den Boden werfen und unser Gesicht in den ausgetretenen Teppich drücken, sodass ich eine fast unermessliche Zahl von Hausstaubmilben und einen schwachen Duft nach sexuellen
Weitere Kostenlose Bücher