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Die geprügelte Generation

Die geprügelte Generation

Titel: Die geprügelte Generation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Müller-Münch
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Seitdem, so sieht es Alice Miller, habe es Änderungen im Erziehungsverhalten gegeben. Viele der heutigen Eltern und nicht wenige Großeltern versuchten, bei der Erziehung der Kinder einen vernünftigen und praktikablen Mittelweg zwischen den Extremen zu finden. In vielen Familien hat sich ein neues Selbstverständnis zwischen Erwachsenen und Kindern angebahnt. Für den Kriminologen Christian Pfeiffer kam mit der 68er Studentenrevolte und ihren Folgen, »auf einmal eine neue Ehrlichkeit ins Spiel.« Plötzlich wurde die Frage öffentlich diskutiert, was ist überhaupt eine kindgerechte Erziehung. »Die 68er Diskussion stellte einfach eine Zäsur dar. Durch sie wurde öffentlich die Tradition der autoritären Erziehung angegriffen und infrage gestellt.«
    Alter Wein in neuen Schläuchen?
    Doch immer wieder wurde gegen die 68er gestänkert, wurden ihre unstrukturierten Erziehungskonzepte angezweifelt. Es gab lautstarke Rufe nach mehr Disziplin, mehr Autorität in der Erziehung. Ausgerechnet ein 68er-Veteran, der Politikwissenschaftler Claus Leggewie führte 1993, ein Vierteljahrhundert nach der 68er Revolte, die Phalanx derer an, die dafür plädierten, Kinder wieder strenger zu erziehen. Es war die Zeit, als Molotowcocktails in Häuser schlafender Migranten flogen, Rechtsradikale für ein ausländerfreies Deutschland auf den Straßen herumgrölten, Namen wie Hoyerswerda, Rostock, Solingen und Mölln für ein fremdenfeindliches Schreckensszenario standen. In einem aufsehenerregenden Essay in der ZEIT unter der Überschrift: »Plädoyer eines Antiautoritären für Autorität« vertrat er die These, dass rechtsradikale Gewalt durch falsche Erziehung ausgelöst worden sein könnte:
     
    Die als Nazis kostümierten Kids, die so schrecklich normale Monster sind […] gehören einer verlorenen Generation an, die sich selbst (und der Glotze) überlassen blieb. Die in verdächtiger Eile als »Nazi-Kids« gebrandmarkten Gewalttäter sind Erziehungswaisen, Angehörige einer neuen vaterlosen und fatal auf die (hilflosen) Mütter fixierten Generation. Aber nicht die Schläge der Väter und die Strenge der Mütter, sondern Abwesenheit und Gleichgültigkeit der Älteren bläuten ihnen das ›autoritäre‹ Denken ein. 39
     
    Seiner Ansicht nach war das eigentlich gutgemeinte Prinzip der repressionsfreien Erziehung in ein prinzipien- und gestaltloses Leben-und-leben-Lassen abgerutscht.
     
    Niemand hat ihnen je eine Grenze gezogen und sich als Vorbild angeboten: nicht die Eltern und nicht die Verwandten,weder die Nachbarn noch die Freunde, erst recht nicht die Lehrer, Ausbilder oder Vorgesetzte. Niemandem ist etwas aufgefallen, keiner hat irgendwelche Anzeichen bemerkt, niemals bekamen sie gesagt: »Das geht nicht«. Diesen Fehler machen Eltern andauernd: aus Bequemlichkeit, aus Angst vor der Auseinandersetzung, aus Unsicherheit, welche Prinzipien sie überhaupt setzen sollen. Antiautoritär ist das nicht, nur gedankenlos.
     
    Damit rede er nicht der autoritären Erziehung unseligen Angedenkens das Wort, »die in der Tat Akten der Dressur und der Brechung von Kindern gleichkam«, erläuterte Leggewie seinen Vorstoß. Und meinte Jahre später in einem Essay für den Deutschlandfunk vom 30.   11.   2008, es sei ihm in seinem ZEIT-Beitrag von 1993 nur darum gegangen darzustellen, wie das gut gemeinte und nach wie vor gültige Prinzip repressionsfreier Erziehung in ein ganz und gar prinzipien- und gestaltloses Laisser-faire abgerutscht sei.
    Mit seinem »Lob der Disziplin« folgte dann dreizehn Jahre später im Jahr 2006 Bernhard Bueb, der ehemalige Leiter des Internats Schloss Salem. Monatelang stand Buebs Buch auf der Bestsellerliste, wurden seine Thesen heftig diskutiert. Bueb beschrieb ebenfalls einen Erziehungsnotstand, der seiner Ansicht nach in Schulen ebenso wie in Elternhäusern herrsche. Wohlstandsverwahrlosung und Egoismus der erzieherisch vernachlässigten Bürgerkinder sei die Folge. Die Schuld daran gab er einer puddinghaften Pädagogik, die sich nach 1968 verbreitet habe. Deshalb, so forderte er, müsse man sich zukünftig wieder auf eine »vorbehaltlose Anerkennung von Autorität und Disziplin« stützen.
    Der Frankfurter Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik störte sich vor allem an der Vorstellung Buebs, wonach das Kind ein »asoziales, dämonisches Wesen sei, das nur mit Gewalt und Zwang sozialisiert werden könne« 40 . Auch die Bielefelder Erziehungswissenschaftlerin Sabine Andresen meldete sich anläßlichder

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