Die geprügelte Generation
Küchentisch heftig debattiert. »Ebenso über Taschengeld, schulische Leistungen und die erste Freundin. Interessant dabei: Ich bekam schneller die Erlaubnis, zur Friedensdemo nach Hamburg zu fahren, als abends in die Disco zu gehen.« Auf geschliffene Umgangsformen legten seine Eltern, wie in diesem links-intellektuellen Milieu üblich, keinen besonderen Wert: »lieber unerzogene Kinder als den Ruf zu haben, von gestern zu sein. Also ging ich nicht zur Tanzschule, lernte keinen Krawattenknoten, beherrsche die Regeln, wie man sich und andere in Gesellschaft vorstellt, bis heute nur mangelhaft«.
Trotzdem, so Sack, kontrollierten die intellektuellen Mütter in den 68ern, in ihren bodenlangen, indischen Hippie-Kleidern, streng die Hausaufgaben. Den Vätern, die es eigentlich ganz anders machen wollten, »rutschte auch mal ganz traditionell die Hand aus. Und meine Eltern diskutierten lange mit mir, ob ich nach der Grundschule in eine der drei Gesamtschulen gehen sollte, die es damals in Hannover gab«. Wer dieses Ringen der damaligen Eltern, diese Auseinandersetzung mit alten Konventionen und neuen Verhaltensweisen miterlebt hat, der verstehe, so Sack, den damaligen Zeitgeist besser und nehme das dieser Generation überhaupt nicht übel. »Im Gegenteil: Wir, die Kinder der experimentierfreudigen, antiautoritären, widersprüchlichen Eltern liebten sie eben dafür. Immerhin hatten sie gute Gründe für die Suche nach neuen Wegen.«
1968 war das Jahr, in dem nicht nur der Muff unter den Talaren gelüftet wurde, sondern in dem auch Kochlöffel wieder ihrer eigentlichen Bestimmung zugeführt wurden. Und die übermächtigen Eltern, die solange das Zepter in der Hand gehalten hatten, wurden von ihren Kindern vom Sockel gestoßen. Wurden infragegestellt, mussten sich rechtfertigen, bloßlegen, wie sie es denn mit den Nazis gehalten hatten mit dem Widerstand, den verschleppten Juden. Hatten sie revoltiert, wenigstens im Kleinen? Oder waren sie brav mitmarschiert, womöglich noch an vorderster Front. Das Aufbegehren der jungen Leute damals richtete sich gegen Enge und Biederkeit, gegen autoritäre Väter und Hausfrauen, die ihren Kindern nasse Aufnehmer um die Ohren klatschten. So, wie die Generation dieser Eltern mit ihrem Leben, aber auch mit ihren Kindern umgegangen war, wollte man es auf gar keinen Fall machen.
Plötzlich waren Sekundärtugenden wie Pünktlichkeit, Sauberkeit und Ordnungsliebe verpönt, wurden die noch immer gültigen Erziehungsmethoden der Nazis infrage gestellt: Ist es richtig, ein Kind einfach nachts durchschreien zu lassen, ohne es zu trösten? Müssen Babies wirklich alle vier Stunden gestillt werden oder eher dann, wenn sie hungrig sind? Müssen Gehorsamkeit, Härte und Disziplin die Erziehung eines Kindes bestimmen? Oder sollte man eher auf Selbständigkeit, Kreativität und Eigenverantwortung setzen? Der Bruch mit pädagogischen Traditionen jedenfalls war radikal.
Die antiautoritäre Erziehung, das Gegenstück zum autoritären Erziehungsstil, schien vielen als allein seligmachende Lösung nach so viel Unterdrückung und Gewalt. Und vielleicht musste ja überzogen werden. Vielleicht konnte nur so klar werden, wie schrecklich es vorher gewesen war. Das Lachen ihrer Kinder jedenfalls ließ die Eltern, die in ihrer Jugend in den 50ern und 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wenig Freude und Zuwendung erfahren hatten, frohlocken.
War das Disziplinierung zur Disziplinlosigkeit?
Die Schweizer Therapeutin Alice Miller beobachtete diese damalige Entwicklung mit großer Skepsis. Sie empfand, dass aus den pädagogischen Vorstellungen der 68er eine »Disziplinierung zur Disziplinlosigkeit« entstand: »Damit schloss sich ganz unerwartet der Kreis zur pädagogischen Vergangenheit, die man doch eigentlich überwinden wollte. Stattdessen begegneten sich die Extreme. Ohne dass es den Beteiligten recht bewusst wurde, praktizierten sie ein Erziehungsverhalten, das sie strikt ablehnten: Sie übten Zwang und Druck aus – nur mit umgekehrten Vorzeichen. Das unartige Kind war das gute Kind, das brave war verhaltensgestört, und die Kinder mussten tun, was sie nach Meinung dieser Erzieher tun wollten« 38 .
Aber auch Alice Miller konnte bei aller Kritik nicht die Augen davor verschließen, dass diese pädagogischen Bilderstürmer ihr Gutes hatten: »Sie gaben einen entscheidenden Anstoß. Sie haben die verkrusteten Strukturen aufgebrochen und auch manchen neuen Weg gewiesen, der durchaus begehbar ist.«
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