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Die geprügelte Generation

Die geprügelte Generation

Titel: Die geprügelte Generation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Müller-Münch
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Debatte um Buebs Thesen zu Wort und meinte, sie habe nahezu identische Bilder und Beispiele, wie Bueb sie nutze, in einem Buch des Berliner Pädagogen Friedrich Paulsen gefunden, der 1909 vor den liberalen Müttern und Pädagogen warnte, die das Geschlechter- und Autoritätsverhältnis bedrohten.
    Die Diskussion darüber, wie Kinder am besten gedeihen können und ob es hierfür wirklich ein Patentrezept gebe, geht also ungehindert weiter – in alter Tradition von Ratlosigkeit, gegenseitigen Vorwürfen und extremer Positionierung. Auswüchse und Übertreibungen hat es in vielerlei Richtungen gegeben. Nur dass inzwischen Eltern etwas mehr an Wissen und Information zur Verfügung steht als den Generationen zuvor, die im Konfliktfall nichts weiter zur Hand hatten als Rohrstock und Repression.
    Schlagzeilen in dieser Diskussion lieferte Anfang 2011 die amerikanische Jura-Professorin Amy Chua, Tochter chinesischer Einwanderer, Mutter von zwei Töchtern, die mit ihrem Buch »Die Mutter des Erfolgs« nach Härte und Disziplinierung, nach einer modernen Form der »Schwarzen Pädagogik«, rief – und damit einen Bestseller landete. Ihre Thesen: Sei streng mit deinen Kindern, verlange alles, bestrafe sie und lass möglichst keinerlei Schlendrian zu. »Mir war es wichtig, dass Sophie und Lulu [ihre beiden Töchter] fließend Mandarin und Englisch lernen, und dass sie nur Einsen nach Hause bringen«, so Chua in einem Spiegel-Interview. »Sophia konnte mit 18 Monaten das Alphabet. […] Als sie drei war, las sie Sartre.« 41 Als Sophie beim Klavierüben nicht parierte, drohte ihr Mutter Amy, »wenn das beim nächsten Mal nicht perfekt ist, nehme ich dir sämtliche Stofftiere weg und verbrenne sie«. Die Kinder durften niemals Schulkameradinnen zum Übernachten mit nach Hause bringen, nicht Fernsehen gucken. Und wenn sie nicht parierten, wurden sie von dieser Mutter schon mal als »wertloser Müll« beschimpft. Erziehungsmethoden, die der in den 50er und 60er Jahren aufgewachsenen Generation allzu bekannt vorkommen dürften.
    Dabei hat sich durch die 68er Generation längst als Allgemeingutdurchgesetzt: Kinder brauchen Selbstvertrauen und keinen Drill, müssen ernst genommen und umsorgt werden. Doch auch bei den inzwischen ergrauten einst antiautoritären Alt-68ern ist Ernüchterung eingekehrt. So wie bei Pui Schmidt von Schwind. Vieles von dem, was er damals mit initiierte, hält er auch im Nachhinein noch für unabdingbar notwendig. Heute beobachtet er allerdings skeptisch, was aus den Elterninitiativen, den ehemaligen Kinderläden geworden ist. »Die sind meist ein privilegierter Laden. Der Beitrag ist höher als in einem städtischen oder konventionellen Kindergarten. Die Eltern sind allesamt aus intellektuellem, gutbürgerlichem Milieu. Meist kocht eine polnische Köchin, reinigt eine bulgarische Putzfrau. Und auf den Elternabenden wird heftig darüber diskutiert, ob man Leonhard oder Max, Laura oder Anna-Marie Fischstäbchen zumuten kann, ohne dass sie Schaden nehmen. Oder ob weiterhin Biogemüse auf den Tisch kommen sollte«.

15. Kapitel
WO BLEIBT DAS GESCHLAGENE KIND MIT SEINER WUT?
     
    Hätte ich den Klumpen doch nie geboren
    Zwei Jahrzehnte ist es her, dass Solingen eine Stadt in Aufruhr war. So jedenfalls hieß es in zahlreichen Medien, nachdem am 29. Mai 1993 das Haus einer dort lebenden türkischen Familie in Flammen aufgegangen war. Fünf Menschen starben. Am 13. Oktober 1995 verurteilte ein Strafsenat des Düsseldorfer Oberlandesgerichts vier junge Solinger wegen fünffachen Mordes, 14fachen Mordversuches und besonders schwerer Brandstiftung zu einmal 15 und dreimal zehn Jahren Haft. 42 Der Jugendliche, den das Gericht für den Anführer der Vierergruppe bei diesem Brandanschlag hielt, war ein 17-Jähriger, an dessen Kindheitsgeschichte sich sehr gut darstellen lässt, was aus einem geprügelten, vernachlässigten, misshandelten Kind schlimmstenfalls werden kann.
    Christian R. erschien zum ersten Verhandlungstag statt in einer seinem früheren Leben als Skinhead entsprechenden Kluft mit bravem Kurzhaarschnitt, in Anzug und Krawatte. So, als wolle er sich bei den Richtern lieb Kind machen. Auf der Anklagebank wirkte er brav und überangepasst. Seine Mutter stand ihm während des Prozesses ebenso wenig zur Seite wie in seinem gesamten Leben bisher. Sie ließ sich entschuldigen. Gerade habe sie eine neue Wohnung gefunden, wenn sie vor Gericht erscheine, verliere sie womöglich ihre Stelle, zumal sie schon jetzt in

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