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Die Gerechten

Die Gerechten

Titel: Die Gerechten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bourne
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Oberfläche schien das ganze Licht des Mondes einzufangen. Er wusste, dass er Angst haben sollte, und die Stimme in seinem Kopf sagte ihm, dass er Angst hatte. Aber die Stimme klang seltsam fern – als schildere ein Radiosprecher ein fernes Footballspiel. Howard sah, wie die Messerklinge näher kam, aber immer noch war ihm, als passiere das alles jemand anderem.
    Das Orchester spielte fortissimo, und Händeis Musik brandete durch die Kirche mit einer Wucht, die Götter wecken konnte. Alt und Tenor sangen wie aus einem Munde und fragten:
    0 Tod, wo ist dein Stachel?
    Will war kein Liebhaber klassischer Musik wie sein Vater, aber bei der Macht des »Messias« sträubten sich auch ihm die Nackenhaare. Während er weiter nach vorn schaute, stellte er sich das Gesicht seines Vaters vor, sah es vor seinem geistigen Auge: hingerissen. Er hoffte, dass unsichtbar unter der Entrückung auch ein wenig Freude darüber war, diesen Augenblick mit seinem Sohn teilen zu können.
    Die Klinge senkte sich zuerst auf die Brust. Macrae sah die rote Linie, die sie hinterließ, als sei das Messer nur ein roter Filzstift. Die Haut schien Blasen zu werfen, und er begriff nicht, warum er keinen Schmerz fühlte. Das Messer fuhr nach unten und schlitzte seinen Bauch auf wie einen Sack Getreide. Der Inhalt quoll heraus, warmes, weiches, schleimiges Gedärm. Howard beobachtete das alles, bis das Messer sich schließlich hob. Erst jetzt sah er das Gesicht seines Mörders. Sein Kehlkopf presste ein Keuchen des Entsetzens hervor, als er ihn erkannte. Das Messer bohrte sich in sein Herz, und alles war dunkel.
    Die Mission hatte begonnen.

2
    FREITAG, 21.46 UHR, MANHATTAN
    Der Chor verbeugte sich, der Dirigent senkte den verschwitzten Kopf. Aber Will hörte nur ein Geräusch: das Klatschen seines Vaters. In den paar Jahren, seit er ihn kannte, hatte er immer wieder gestaunt, welche Dezibelstärken diese beiden großen Hände hervorbringen konnten – als schlügen zwei Holzplatten aneinander. Eine fast verlorene Erinnerung stieg in ihm auf. Es war auf einer Schulabschlussfeier gewesen, damals in England – das einzige Mal, dass sein Vater da gewesen war. Will war zehn Jahre alt, und als er die Bühne betrat, um den Lyrikpreis in Empfang zu nehmen, war er sicher, dass er im Beifall von tausend Eltern ganz deutlich das Klatschen seines Vaters hören konnte. Er war stolz gewesen auf die mächtigen Eichenholzhände dieses Fremden. Sie waren stärker als die jedes anderen Mannes auf der Welt; dessen war er sicher.
    Die Lautstärke war nicht geringer geworden, seit sein Vater, jetzt Anfang fünfzig, in die mittleren Jahre gekommen war. Er war schlank und fit wie immer, und sein weißes Haar war kurz geschnitten. Joggen und Fitness-Workouts waren seine Sache nicht, aber Segeltörns am Wochenende vor Sag Harbor hielten ihn in Form. Will applaudierte weiter und sah seinen Vater an, aber dessen Blick blieb nach vorn gerichtet. Will wusste, dass er ihn ansah, aber er verzog keine Miene. Als Will die leicht gerötete Nase seines Vaters sah, begriff er erschrocken, warum. Die Augen des Mannes waren feucht: Die Musik hatte ihn gerührt, und er wollte nicht, dass der Sohn seine Tränen sah.
    Will lächelte bei sich. Ein Mann mit Händen, so stark wie Bäume, ließ sich von einem Engelschor zu Tränen rühren. In diesem Moment fühlte er das Vibrieren. Er zog seinen Blackberry hervor, und auf dem Display stand eine Nachricht aus der Lokalredaktion: »Job für dich. Brownsville, Brooklyn. Mordfall.«
    Sein Magen tat einen kleinen Satz, dieses Aerobic-Manöver, in dem sich Aufregung und Nervosität bemerkbar machen. Die Lokalredaktion der Times hatte ihm die »Nachtschicht-Cops« zugewiesen, die traditionelle Feuerprobe für Überflieger wie ihn. Seine Bestimmung mochte sein, als Nahost-Korrespondent zu arbeiten oder das Pekinger Büro zu leiten, so die Logik der Zeitung, aber zuerst galt es, die Grundlagen des Journalismus zu erlernen. »Sie werden noch reichlich Zeit haben, über Militärputsche zu berichten«, sagte die Zeitung. »Aber erst müssen Sie über eine Gartenausstellung berichten können.« Oder wie Glenn Harden, der Chef der Lokalredaktion, sagte: »Sie müssen die Menschen kennen lernen, und das können Sie hier.«
    Während der Chor noch seinen Applaus entgegennahm, wandte Will sich an seinen Dad, zuckte entschuldigend die Achseln und deutete auf seinen Blackberry. Arbeit, formte er lautlos mit dem Mund, und dann griff er nach seiner Jacke. Diese

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