Die Gerechten
Polizeikontakte zu knüpfen.«
»Was denn – mit Lieutenant O’Rourke saufen, bis ihr beide unterm Tisch liegt? Kann ich mir irgendwie nicht vorstellen. Außerdem wirst du nicht lange in dem Ressort arbeiten. Wenn Carl Wie-heißt-er-gleich immer noch über Verkehrsstaus auf Staten Island berichtet, wirst du als Korrespondent im Weißen Haus oder in Paris arbeiten oder sonst wo an einem wichtigen Ort.«
Will lächelte. »Dein Glaube an mich ist rührend.«
»Ich mein’s ernst, Will. Ich weiß, es sieht nicht so aus, weil ich Kuchenkrümel im Gesicht hab, aber ich mein’s ernst. Ich glaube an dich.« Er nahm ihre Hand. »Weißt du, welchen Song ich heute bei der Arbeit gehört hab? Es war merkwürdig, weil man solche Songs im Radio kaum noch hört, aber es war schön.«
»Was war’s denn?«
»Ein John-Lennon-Song. Den Titel weiß ich nicht mehr, aber er singt von all den Dingen, an die die Leute glauben, und sagt: ›Ich glaube nicht an Jesus, ich glaube nicht an die Bibel, ich glaube nicht an Buddha‹ – und all das andere, weißt du, Hitler und Elvis und was weiß ich noch, und dann singt er: ›Ich glaube nicht an die Beatles, ich glaube nur an mich, an Yoko und an mich.‹ Und da hab ich plötzlich innegehalten, mitten im Warteraum in der Klinik. Weil – du hältst es bestimmt für bescheuert – weil ich genau daran eben auch glaube.«
»An Yoko Ono?«
»Nein, Will. Nicht an Yoko Ono. Ich glaube an uns, an dich und an mich. Daran glaube ich.«
Instinktiv verspürte Will immer den Drang, aus solchen Momenten die Luft herauszulassen. Er war zu sehr Engländer für derart unverhohlene Gefühlsäußerungen. Er hatte so wenig Erfahrung damit, dass er kaum wusste, wie er reagieren sollte, wenn man sie ihm zeigte. Aber in diesem Augenblick verkniff er es sich, einen Witz zu reißen oder das Thema zu wechseln.
»Ich hab dich ziemlich lieb, weißt du.«
»Ich weiß«, sagte sie, und dann lauschten sie beide dem Geräusch ihrer Kuchengabel auf dem Teller.
»Ist bei der Arbeit heute etwas passiert, das dich so … na ja, so nachdenklich gemacht hat?«
»Sozusagen. Du erinnerst dich an den Jungen, den ich behandle?«
»Junge X?«, fragte er scherzhaft. Beth hielt sich gewissenhaft an die Vorschriften zur ärztlichen Schweigepflicht; nur gelegentlich und auf sehr verschlüsselte Weise sprach sie außerhalb der Klinik über ihre Fälle. Natürlich verstand und respektierte er es. Aber es machte es ihm schwierig, ihr die gleiche Unterstützung zukommen zu lassen, die sie ihm gab, und ihre Karriere mit der gleichen Energie zu fördern. Als die Personalpolitik in der Klinik unangenehme Entwicklungen genommen hatte, war er mit den entscheidenden Persönlichkeiten vertraut gemacht worden und hatte ihr raten können, welche Kollegen sich als Verbündete eigneten und welche sie lieber meiden sollte. In ihren ersten gemeinsamen Monaten hatte er sich vorgestellt, wie sie ganze Abende lang über schwierige Fälle sprachen und wie Beth seinen Rat zu einem rätselhaften Klienten suchte, der sich nicht öffnen wollte, oder zu einem Traum, der sich nicht deuten ließ. Dann malte er sich aus, wie er seiner Frau die Schultern massierte und dabei bescheiden die revolutionäre Idee vortrug, mit der ein verstummtes Kind endlich zum Reden gebracht werden könnte.
Aber Beth war nicht so. Zum einen schien sie es weniger nötig zu haben als Will. Für ihn war etwas erst wirklich passiert, wenn er mit Beth darüber gesprochen hatte. Sie dagegen kam allein von der Stelle, sie hatte ihren eigenen Tank.
»Ja, okay. Junge X. Du weißt, warum ich ihn behandle, oder? Man wirft ihm eine Serie von schwerwiegenden Brandstiftungen vor – genauer gesagt, er hat sie tatsächlich begangen. In der Schule. Im Haus der Nachbarn. Einen ganzen Abenteuerspielplatz hat er abgefackelt.
Ich rede jetzt seit Monaten mit ihm, und ich glaube nicht, dass er auch nur eine Spur von Reue zeigt. Ich musste auf die fundamentalen Dinge zurückgreifen und versuchen, ihn dazu zu bringen, dass er das Konzept von gut und böse anerkennt. Und weißt du, was er heute getan hat?«
Beth schaute zu einem Tisch hinüber, wo zwei Kellner bei ihrer Spätschichtmahlzeit saßen. »Erinnerst du dich an Marie, die an der Aufnahme arbeitet? Sie hat letzten Monat ihren Mann verloren und ist sehr deprimiert; wir haben alle darüber geredet. Und irgendwie muss dieser Junge – Junge X – etwas mitbekommen haben, denn heute kommt er mit einer Blume und schenkt sie ihr. Eine
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