Die Germanen: Geschichte und Mythos - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
angeblichen Barbaren vom Kontinent sollten Britannien kulturell und sprachlich stärker prägen als zuvor die Römer und später die Wikinger und Normannen. Am Ende von sechs Jahrhunderten angelsächsischer Herrschaft waren die Nachkommen der Siedler und der keltisch-britischen Bevölkerung zu einem Staat zusammengeschmolzen, für den im 10. Jahrhundert ein germanischer Begriff geläufig wurde: »Engla lond«, Land der Angeln. Stammesunterschiede waren da schon so verwischt, dass Zeitgenossen Angeln und Sachsen als Synonym verwendeten.
Doch viele Details aus dieser so prägenden Epoche sind bis heute umstritten. Die wenigen schriftlichen Quellen widersprechen nicht selten den Ergebnissen anderer Wissenschaften. Landeten auf der Insel etwa nur wenige tausend Einwanderer, die sich dann sofort handstreichartig an die Spitze der Gesellschaft setzten, wie man lange vermutete? Oder kam über einen langen Zeitraum eine Armada von bis zu 200000 Migranten vom Kontinent, wie es moderne DNA -Untersuchungen nahelegen? Und was trieb die Fremden an? Gier? Wachsender Bevölkerungsdruck in ihrer alten Heimat? Ein gestiegener Meeresspiegel?
Auf jeden Fall trafen die Invasoren, die in langen Ruderbooten aus Eiche kamen, auf eine Hochkultur im Niedergang. Gut 350 Jahre lang war Britannien römische Provinz gewesen. Es gab gepflasterte Straßen, mondäne Theater und eine geordnete Verwaltung. Doch dann wankte das Imperium, und ab 407 zog das bedrohte Rom seine Legionen ab. Die Insel lag plötzlich schutzlos da; ihre Bürger waren ohne die Römer militärisch kaum handlungsfähig. In dieser Zeit gaben Angeln, Sachsen und Jüten etliche Siedlungen im heutigen Dänemark, in Schleswig-Holstein und im Elbe-Weser-Raum auf, wie Archäologen anhand der drastisch gesunkenen Belegung der Urnenfriedhöfe nachwiesen. Gleichzeitig tauchten germanische Broschen und Fibeln in Britannien auf. Manche Tonrelikte vom Kontinent und der Insel ähneln einander so sehr, dass sie vom selben Töpfer stammen dürften. Bauchige Glasbecher, filigran mit Tierornamenten verzierte Waffen und die prachtvollen Funde aus dem berühmten Schiffsgrab von Sutton Hoo in der heutigen Provinz East Anglia belegen, dass mit den Barbaren die Handwerkskunst langfristig keineswegs zugrunde ging, auch wenn die Germanen etwa keine Töpferscheibe kannten.
Die Ankömmlinge siedelten zunächst im Süden und Osten der Insel, nutzten dabei aber kaum die Infrastruktur und Techniken der Römer. Im Gegenteil: Anstelle von Steinhäusern errichteten sie einfache, von Pfosten getragene Behausungen mit festgestampftem Boden. Sie kannten zunächst keine Münzwirtschaft, kein stehendes Heer, schon gar keine schriftliche Gesetzgebung. Die einst pulsierenden Städte und die großen, produktiven Landgüter der Römer verfielen. Erst Jahrhunderte später blühten die Städte wieder auf, als die inzwischen christianisierten Angelsachsen steinerne Kirchen, Burgen und Königspaläste errichten ließen. Anfangs gründeten sie nur viele kleine Siedlungen, deren Bewohner Rinder züchteten und Gerste anbauten. An der Spitze dieser Gemeinden stand oft das Haupt eines Familienclans. Aus diesen lokalen Hierarchien bildeten sich allmählich mindestens zwölf germanische Königtümer, die sich untereinander heftige Machtkämpfe lieferten. Nordöstlich von London etwa siedelten die Ostangeln; südlich der Themse ließen sich im Königreich Kent viele Jüten nieder. Von dort erstreckte sich bis nach Cornwall das Reich der Westsachsen, das sich langfristig als stärkstes Königtum durchsetzte.
Die germanische Invasion veränderte dauerhaft die Machtstrukturen in Britannien. Überdies löste sie einen Zusammenstoß der Kulturen aus: Christianisierte Kelten und kultivierte Abkömmlinge der Römer trafen auf ruppige Heiden, die ihren Stammbaum direkt auf den germanischen Kriegsgott Wotan zurückführten. Allein die Begräbnisriten änderten sich deutlich: Die germanische Brandbestattung ersetzte vielerorts die bisher übliche Körperbeisetzung. Zudem opferten die Germanen ihren Göttern nicht nur Rinder. Mitunter begruben sie, so legen es Skelettfunde nahe, auch Menschen bei lebendigem Leib. Manche Forscher erkennen in einigen Gräbern Hinweise für eine stramme gesellschaftliche Trennung, denn offenbar durften nur germanische Krieger ehrenvoll mit ihren Waffen begraben werden. Für diese Theorie spricht auch ein westsächsisches Gesetz aus dem 7. Jahrhundert, das einen Großteil der Einheimischen als Sklaven
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