Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
Menschenverdienst … Heute glaub ich, daß all’s so hat kommen müssen, wie’s kam, und daß deine Kämpf und Schmerzen wohl nötig dazu waren, damit dein heißes Herz zur Ruhe kommen und reif werden konnte für jene Einsamkeit, deren der außerordentliche Geist bedarf und darin jedes starke und ungewöhnliche Werk wurzelt. Nun du aber so weit, soll dir der recht Weg nicht länger verrammt werden, und sobald deine Seele stark geworden zu neuen Wünschen, sollst du ihnen auch folgen dürfen. Denn siehe, Maria hat den Frieden gefunden und Elisabeth mehr als das, eine Aufgabe, die ihrem Leben Inhalt gibt und Ziel; du aber bist noch nicht an dem Ruhepunkt angelangt. Für dich kommt das Leben noch, und es liegt dort, wo deinen Fähigkeiten, die ich auch jetzt erst an deinen neuesten Malereien recht zu ahnen anfange, die nötige Entfaltung gegeben wird. Noch weiß ich nicht, wie und wo das Schicksal dir die Tür öffnet; aber es wird geschehn, und ich hab dafür gesorgt, daß wann wieder eine solche Gelegenheit sich bietet, wie ich sie dir einmal versagt, und nach langem Dürsten dir sich die Quellen der Kunst wieder öffnen sollten, die Mittel, solche zu nutzen, nicht fehlen. Freilich,“ fügte er nach einem kleinen Lächeln bei, „ein wenig warten mußt noch, bis etwas Zeit vergangen über mein Weggehn und die Mutter sich gewöhnt hat an das Neue, da ich dich genugsam kenne, um zu wissen, daß du nicht eher einen frohen und ersprießlichen Weg in die Welt betreten kannst, als du daheim alles in Ordnung weißt und getröstet.“
Er richtete sich noch einmal auf und reichte Anna die Hand, die sie wortlos und erschüttert küßte; dann verabschiedete er sie mit einem kleinen Wink, und während sie hinausschritt, gewahrte sie, wie er mit geschlossenen Augen und erschreckenden dunkeln Schatten im bleichen Gesicht erschöpft in den Stuhl zurückfiel.
An einem schier ebenso frühlingshaften Februartag, wie jener gewesen, da man den armen Johannes Cramer in sein verfrühtes Grab gelegt, wurde auch der Altamtmann, Kammerer und Eherichter Johann Rudolf Waser in der rötlichfeuchten Erde des neuen Friedhofs vor dem Lindentor zur letzten Ruhe gebettet, mit großem Geleite und viel Auszeichnung, und es wurden viel Reden laut über des Mannes tüchtiges und ehrenwertes Erdenwallen und seine großen Verdienste um die Vaterstadt. Aber spärliche Tränen flossen; denn der Kühle, Rechtliche hatte im Leben wohl Achtung, aber wenig Liebe gepflanzt, und da man den Tod des langsam Dahinwelkenden vorausgesehen und er sich als ein Vollendeter ruhig und gleichsam befriedigt hingelegt hatte, ward auch das Ende dieses geordneten Lebens als etwas Natürliches und Ordnungsgemäßes empfunden, ganz anders als bei dem Fähndrich, der stürmisch und unberechenbar, wie er gelebt, auch davongegangen, oder wie beim Dübendorfer Pfarrherrn, der zwar müde und abgelebt, aber doch völlig überraschend sich eines Tages endgültig aus den harten Händen der Frau Regula fortstahl, wohl nicht ahnend, daß diese ihm in kurzer Frist auch dort hinüber nachfolgen würde.
Selbst im Waserschen Hause verlief dieser Tag, ohne daß die schwarzverhängten Zimmer Ausbrüche heißen Schmerzes vernommen hätten. Als ob auch jetzt noch das zurückhaltende Wesen des Hausherrn geherrscht hätte, blieben Schmerz und Trauer in maßvollen Grenzen. Frau Esther, die sonst unter jeglicher Furcht vor kommendem Unglück oder dem Leid der Angehörigen so leicht zusammenbrach, trug diesen, vom Schicksal ihr zunächst zugedachten Schlag mit einer überraschenden, fast würdevollen Fassung, und als am Abend die Verwaisten zusammensaßen, fand sie sogar die Ruhe der Seele, ihren versammelten Kindern allerlei schöne und seltsame Züge aus dem Leben des Verstorbenen zu erzählen, wobei sie mit Vorliebe und hier und da gar mit einem fernen, verträumten Lächeln bei der allerersten Zeit ihrer Ehe verweilte, wo sie zuerst, allein mit der kleinen Maria, in diesem Hause gewohnt und sie noch so jung war, daß sie oft im verstohlenen mit des eignen Kindes Puppe spielte.
Nur als später Heinrich den Abendsegen las und zum ersten Mal die junge, helle, vor Erregung zitternde Stimme die altvertrauten Worte sprach, die sonst aus des Vaters Mund zwar karg und herb geklungen, aber fest, wie ein verläßlicher Stab, daran man sich halten kann, überwältigte es sie, daß sie aufschluchzend und ohne Gruß das Zimmer verließ, gefolgt von Elisabeth, die von nun an der Mutter Kammer
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