Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
Malerei.
Der andere aber schüttelte den Kopf: „Wohl, wohl, die alten, weilen es nichts Neues gibt für ein und denselben Menschen, bloß eine Stufe höher vielleicht auf der Schneckentreppe des Lebens, und da sieht man das Zeug ein wenig anders, ist aber alleweil dasselbe, alleweil dasselbe.“
Anna schwieg, und Herr Scheuchzer griff wieder in die Rede ein, und nachdem die Konversation eine Zeit lang mit frischer Bewegung über allerlei Dinge gelaufen, vergangene, gegenwärtige und zukünftige, und auch das Eiswunder der Wasserräder die gebührende Würdigung erfahren, verabschiedete sie sich mit freundlichem Gruß von den Herren. Da sie aber vom Ufer aus noch einmal nach der Brücke zurückschaute, gewahrte sie, wie die beiden ihr zugewandt standen und ihr unter lebhaftem Gespräch nachblickten, und da war es, daß sie an Stark, der in einer bezeichnenden Stellung, die Hand auf dem Rücken, dastand und mit etwas gedrehtem Kopf neben der Perücke die Schärfe des Profils hervorließ, plötzlich wieder den alten Lux erkannte, sodaß ihr nachträglich noch das Blut in die Wangen stieg und sie unwillkürlich mit der Hand zu ihnen zurückwinkte, über das trennende Wasser hinweg, was er alsobald mit einem lebhaften und erfreuten Hutschwenken beantwortete. Dann schritt sie weiter nach dem verborgenen, gegen den Fluß abgeschlossenen Rüdenplätzchen.
Es blieb ihr aber von dieser Begegnung eine freudige Erregung zurück, als ob sie die Jugend gegrüßt hätte, und Lukas’ Schicksal und Worte beschäftigten sie und stärkten ihren Glauben an das Leben und die Kraft der Dauer. Wann selbst er nach so schwerer Irrfahrt die alten Wege wiederfand — und sie fühlte, er stand allbereits mit festen Füßen darauf, sodaß er jene Höhen, nach denen er einst getrachtet, wohl noch erreichen konnte — wie sollte sie verzweifeln, die ja nicht vorsätzlich, sondern durch Schicksal und Irrtum von vorgezeigten Bahnen abgelenkt worden war? Und sie stand ja noch in der Kraft; seit langem war sie sich nicht so jung und stark vorgekommen wie an diesem frischkalten Morgen, ihre Augen waren noch klar und in ihrem Herzen etwas, das aufspringen konnte, wann sie irgendwo in der Natur Schönes sah oder im Leben Rührendes oder Starkes oder wann sich, wie eben jetzt, die beglückendste Erkenntnis bot, daß ein verlorengeglaubter Mensch wieder zu Würde und Tüchtigkeit gelangte.
Und ein anderes noch gab ihr zu denken an dieser Begegnung: Wann es doch möglich war, daß man einem Menschen, der einem einst soviel bedeutet und so schweres Leid zugefügt hatte, eines Tages mit heiterm Sinn und unbefangenem Herzen entgegentreten konnte und einem warmen, ungezwungenen Wohlwollen, mußte man da nicht an eine Kraft der Seele glauben, die einen alles überwinden ließ und auch die qualvollste Erinnerung schließlich auszuklären vermochte zu einem bedeutsamen, aber schmerzlosen Symbolum? Ja, kam es nicht schließlich darauf an und war Grund und Wesen des letzten Glückes, daß man lernte, dermaßen jedes Erlebnis zu läutern, daß alles Persönliche und Zufällige davon abfiel und nur sein eigentlicher Kern übrigblieb, sein Sinn und ewige Bedeutung, das wie alles Allgemeine und Ewige schmerzlos blieb und ohne Stachel?
Und deshalb wohl verlangte die reinste Religion die unbedingte Kraft der Verzeihung als eine wichtigste Tugend, weil sie Ursprung des tiefsten, des unabhängigen Glückes war.
Aus derlei Anschauungen führte Anna ihrem erstarkenden Lebensglauben neue Kräfte zu, und es bot sich auch bald die Gelegenheit, solche auf ihre Tüchtigkeit zu erproben. Als sie in diesen Tagen einmal gegen Abend in das Zimmer ihres Vaters trat, um ein paar sauber vollendete Schriftstücke abzuliefern, traf sie zu ihrer Verwunderung beide Eltern in der erleuchteten Stube, die Mutter mit einem Brief in der Hand; diese entfernte sich jedoch alsobald mit einer verlegenen und etwas ungeschickten Art.
Kaum hatte sie die Türe hinter sich zugeschlossen, als der Vater, der im tiefen Lehnstuhl saß, Anna mit einer fast feierlichen Gebärde zum Sitzen einlud und ihr erst eine Nachricht, so er sie mit ruhigem Herzen zu vernehmen bat, ankündigte, um dann mit etwas stockenden Worten zu erzählen — von einem Briefe, der eben eingetroffen aus Kampen und daraus hervorgehe, daß die Mutter und er Urgroßeltern geworden eines Mädchens, solchem die jungen Eltern den Namen Anna beigelegt hätten.
Einen Augenblick war es ganz still im Zimmer. Vor Annas Augen,
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