Die Geschichte Der Kinder Hurins. Sonderausgabe.
der Stabreim-Fassung von Túrin und dem Drachen zu erklären«. Dieses kurze Manuskript von etwa zwanzig Druckseiten war als Zusammenfassung geschrieben, im Präsens und in einem verknappten Stil; und doch war es der Kern der nachfolgenden »Silmarillion«-Fassungen (auch wenn es damals noch nicht diese Bezeichnung trug). Doch während die ganze mythologische Konzeption in diesem Text umrissen wurde, hat die Geschichte von Túrin darin offensichtlich eine herausgehobene Position – und tatsächlich lautet der Titel im Manuskript »Skizze der Mythologie mit besonderem Bezug zu den ›Kindern Húrins‹«, im Einklang mit seinem erklärten Ziel bei der Abfassung.
Im Jahre 1930 folgte ein sehr viel umfangreicheres Unterfangen, die Quenta Noldorinwa (die Geschichte der Noldor, die gewissermaßen das zentrale Thema des »Silmarillion« darstellt). Diese Version war direkt abgeleitet aus der »Skizze«. Auch wenn der frühere Text dabei erweitert und in einer geschliffeneren Form niedergeschrieben wurde, sah mein Vater die Quenta dennoch als ein übergreifendes Werk an, eine Summe von weit reicheren erzählerischen Entwürfen. Dies ist auch deutlich an dem Untertitel abzulesen, wo es heißt, dies sei »eine kurze Geschichte [der Noldor], herausgezogen aus dem Buch der Verschollenen Geschichten«.
Man sollte sich dabei im Klaren sein, dass zu jener Zeit die Quenta (wenn auch in einer eher skeletthaften Struktur) das gesamte Ausmaß der »imaginären Welt« meines Vaters wiedergab. Es war nicht die Geschichte des Ersten Zeitalters, denn es gab noch kein Zweites oder Drittes Zeitalter; es gab weder Númenor noch die Hobbits, geschweige denn den Ring. Die Geschichte endete mit der Großen Schlacht, in der Morgoth von den anderen Göttern (den Valar) besiegt und von ihnen »durch das Tor der Zeitlosen Nacht in die Leere jenseits der Mauern der Welt« gestoßen wurde. Der Text schließt mit den Worten: »Dies ist das Ende der Geschichten von den Tagen vor den Tagen in den nördlichen Regionen der westlichen Welt.«
Somit mag es wohl seltsam erscheinen, dass die Quenta von 1930 dennoch (nach der »Skizze«) der einzige Text des »Silmarillion« war, den mein Vater je vollendet hat; doch wie so oft beeinflussten äußere Umstände die weitere Entwicklung. Der Quenta folgte später in den Dreißigerjahren eineneue Version in Schönschrift, die nun schlussendlich den Titel Quenta Silmarillion , Geschichte der Silmaril, trug. Diese war viel länger als die vorangehende Quenta Noldorinwa oder sollte es zumindest sein, doch die Grundkonzeption des Werkes als eine Zusammenfassung von Mythen und Legenden (die selbst in ihrer vollen Form von einer völlig anderen Natur und Größe gewesen wären) wurde keinesfalls aufgegeben und kommt wiederum in dem Titel zum Ausdruck: »Die Quenta Silmarillion … Dies ist eine Geschichte in Kurzform , entnommen aus vielen älteren Erzählungen; denn all die Dinge, die sie enthält, wurden von alters her und werden immer noch unter den Eldar des Westens ausführlicher in anderen Geschichten und Liedern erzählt.«
Es ist zumindest wahrscheinlich, dass die Vorstellung meines Vaters vom Silmarillion aus der Tatsache erwuchs, dass das, was man die » Quenta -Phase« des Werks in den Dreißigerjahren nennen kann, mit einem knappen Überblick begann, der einem bestimmten Zweck diente, doch dann in sukzessiven Stadien erweitert und ausgearbeitet wurde, bis der Text nicht mehr als Zusammenfassung erkennbar war und dennoch, aus der Form seines Ursprungs, eine charakteristische »Sachlichkeit« des Tons bewahrte. An anderer Stelle habe ich geschrieben, dass »die gedrängte oder kurzgefasste Form und Art des Silmarillion, mit ihrer Suggestion von Jahrtausenden der Dichtung und ›Überlieferung‹ dahinter, ein starkes Gefühl von ›unerzählten Geschichten‹ weckt, selbst wenn von ihnen erzählt wird; die ›Distanz‹ verringert sich nicht. Es gibt keinen erzählerischen Drang, der Druck und die Angst des unmittelbaren und unbekannten Ereignisses fehlt. Wir sehen die Silmaril nicht so nah, wie wir den Ring sehen.«
Die Quenta Silmarillion in dieser Form kam jedoch 1937 zu einem abrupten und, wie sich herausstellen sollte, nachhaltigen Ende. Am 21. September dieses Jahres wurde der Hobbit von George Allen and Unwin veröffentlicht, und nicht viel später sandte mein Vater auf Drängen des Verlegers eine Anzahl seiner Manuskripte ein, die am 15. November 1937 in London eingingen. Unter ihnen war die
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