Die Geschichte der Liebe (German Edition)
dem Roman meines Lebens. Dem, den ich nach meinem Herzinfarkt zu schreiben begonnen und am Morgen nach dem Zeichenkurs an Isaac geschickt hatte. Dessen Name, wie ich jetzt sah, in Blockschrift oben auf der Seite stand. WÖRTER FÜR ALLES stand da, der Titel, für den ich mich am Ende entschieden hatte, und darunter: ISAAC MORITZ.
Ich sah nach oben an die Decke.
Ich sah nach unten. Wie gesagt, es gibt Stellen, die ich auswendig weiß. Und der Satz, den ich auswendig wusste, stand noch immer da. Wie ungefähr hundert andere, die ich ebenfalls auswendig wusste, nur hier und dort ein bisschen zusammengestrichen, dass einem leicht übel davon wurde. Als ich umblätterte, um die Anmerkungen zu lesen, stand da, Isaac sei diesen Monat gestorben und der abgedruckte Text ein Auszug aus seinem letzten Manuskript.
Ich stand aus dem Bett auf und zog das Telefonbuch unter Berühmte Zitate und der Geschichte der Wissenschaft hervor, die Bruno sich gern unterlegt, wenn er bei mir am Küchentisch sitzt. Ich fand die Nummer der Zeitschrift. Hallo , sagte ich, als sich die Zentrale meldete. Die Belletristik , bitte.
Es klingelte dreimal.
Literaturabteilung, sagte ein Mann. Die Stimme klang jung.
Woher haben Sie diese Geschichte? , fragte ich.
Verzeihung?
Woher haben Sie diese Geschichte?
Welche Geschichte, Sir?
Wörter für alles.
Die ist aus einem Roman des verstorbenen Isaac Moritz , sagte er.
Haha, sagte ich.
Verzeihung?
Nein, ist sie nicht , sagte ich.
Doch, ist sie , sagte er.
Nein, ist sie nicht.
Ich versichere Ihnen, wirklich.
Ich versichere Ihnen, wirklich nicht.
Doch, Sir. Wirklich.
Na schön , sagte ich. Dann ist sie’s eben.
Darf ich fragen, mit wem ich spreche? , sagte er.
Leo Gursky , sagte ich.
Verlegene Stille. Als er wieder sprach, klang seine Stimme weniger sicher.
Soll das ein Witz sein?
Keine Spur, sagte ich. Aber das ist doch der Name einer Figur in der Geschichte.
Eben, sagte ich.
Ich muss das mit unserer Rechercheabteilung klären, sagte er. Normalerweise informieren die uns, wenn es tatsächliche Personen mit identischem Namen gibt.
Überraschung! , rief ich.
Bitte bleiben Sie dran , sagte er.
Ich legte auf. Ein Mensch hat höchstens zwei, drei gute Ideen in seinem Leben. Und auf diesen Zeitschriftenseiten war eine von meinen. Ich überflog sie noch einmal. Hier und dort musste ich laut lachen und staunte über meine eigene Brillanz. Und doch. Öfter zuckte ich zusammen.
Ich wählte noch einmal die Zeitschrift an und ließ mich mit der Belletristik verbinden.
Wer wohl? Dreimal dürfen Sie raten , sagte ich.
Leo Gursky? , sagte der Mann. Ich hörte die Angst in seiner Stimme.
Bingo , sagte ich, und dann: Dieses so genannte Buch.
Ja?
Wann soll es erscheinen?
Augenblick, bleiben Sie dran, sagte er.
Ich blieb dran.
Im Januar , sagte er, als er zurückkam.
Januar! , schrie ich. So bald! Auf dem Kalender bei mir an der Wand stand 17. Oktober. Ich konnte nicht anders, ich fragte: Ist es denn gut?
Manche halten es für eines seiner besten.
Eines seiner besten! Meine Stimme ging eine Oktave hoch und schnappte über.
Ja, Sir.
Ich hätte gern ein Vorabexemplar , sagte ich. Wer weiß, ob ich im Januar noch lebe, um über mich selbst zu lesen.
Schweigen am anderen Ende.
Gut , sagte er schließlich. Ich werde sehen, dass ich eins auftreibe. Wie ist Ihre Adresse?
Genau wie die des Leo Gursky in der Geschichte , sagte ich und legte auf. Armer Kerl. Er konnte Jahre damit zubringen, dieses Geheimnis zu lüften.
Aber ich hatte mein eigenes zu lüften. Nämlich: Wenn mein Manuskript in Isaacs Haus gefunden und irrtümlich für seines gehalten worden war, bedeutete das nicht auch, dass er es gelesen oder zumindest zu lesen begonnen hatte, bevor er starb? Wenn ja, hätte das alles geändert. Es hätte bedeutet –
Und doch.
Ich ging in der Wohnung auf und ab, soweit man überhaupt auf und ab gehen konnte zwischen einem Federballschläger hier, einem Stapel National Geographic dort und den über den Wohnzimmerboden kugelnden Teilen eines Boulespiels, von dem ich sowieso keine Ahnung habe.
Es war ganz einfach: Wenn er mein Buch gelesen hatte, wusste er die Wahrheit.
Ich war sein Vater.
Er war mein Sohn.
Und jetzt dämmerte mir, dass da womöglich ein kurzer Zeitabschnitt gewesen war, in dem Isaac und ich beide im Wissen um die Existenz des anderen gelebt hatten.
Ich ging ins Bad, wusch mir das Gesicht mit kaltem Wasser und lief nach unten, um nach der Post zu schauen. Ich glaubte
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