Die Geschichte der Liebe (German Edition)
Er wusste auch die Namen aller Pflanzen und ob sie essbar waren. Ich weiß, es ist kein rechter Trost, aber wenn du nach London kommst, werde ich dir die Namen aller Lokale in Nordwest-London sagen, wo es Currys gibt und ob sie essbar sind. Liebe Grüße, Onkel Julian. PS: Erzähl deiner Mutter nicht, was ich dir da schicke, wahrscheinlich wäre sie mir böse und würde sagen, du seist zu jung. Ich untersuchte die verschiedenen Gerätschaften, indem ich jede einzeln mit dem Daumennagel herauspulte und die Klingen am Finger prüfte.
Ich beschloss, dass ich in der Wildnis zu überleben lernen wollte, wie mein Vater. Es würde gut sein, das zu können, falls Mom etwas zustieße und Bird und ich uns allein durchschlagen müssten. Ich erzählte ihr nichts von dem Messer, weil Onkel Julian gemeint hatte, es solle ein Geheimnis bleiben, und überhaupt, warum sollte meine Mutter mich allein im Wald kampieren lassen, wo sie mich doch kaum den halben Block hinuntergehen ließ?
15. WENN ICH SPIELEN GING, WOLLTE MEINE MUTTER IMMER GENAU WISSEN, WO ICH WAR
Sobald ich nach Hause kam, rief sie mich in ihr Schlafzimmer und herzte und küsste mich. Sie strich mir übers Haar und sagte: «Ich habe dich so lieb», und wenn ich niesen musste, sagte sie: «Gesundheit, du weißt doch, wie sehr ich dich liebe, nicht wahr?», und wenn ich aufstand, weil ich ein Taschentuch brauchte, sagte sie: «Lass nur, ich hole dir schon eins, ich habe dich so lieb», und wenn ich einen Stift für meine Hausaufgaben suchte, sagte sie: «Nimm meinen, für dich tue ich alles», und wenn es mich am Bein juckte, sagte sie: «Ist das die Stelle, komm, lass dich drücken», und wenn ich sagte, ich ginge nach oben in mein Zimmer, rief sie mir hinterher: «Was kann ich für dich tun, ich habe dich so lieb», und immer wollte ich sagen, sagte aber nie: Hab mich weniger lieb.
16. ALLES WIRD AUF NEUEN GRUND GESTELLT
Eines Tages stand meine Mutter aus dem Bett auf, in dem sie fast ein Jahr gelegen hatte. Es schien, als sei es das erste Mal, dass wir sie nicht durch all die rund um ihr Bett versammelten Wassergläser sahen, die Bird in seiner Langeweile manchmal mit einem nassen Finger, den er über die Ränder kreisen ließ, zum Singen zu bringen versuchte. Sie machte Makkaroni mit Käse, eine der wenigen Sachen, die sie kochen kann. Wir behaupteten, es sei das Beste, was wir je gegessen hätten. Eines Nachmittags nahm sie mich beiseite. «Von jetzt an», sagte sie, «werde ich dich wie eine Erwachsene behandeln.» Ich bin erst acht, wollte ich sagen, sagte es aber nicht. Sie fing wieder an zu arbeiten. In einem mit roten Blumen bedruckten Kimono wanderte sie durchs Haus, und wohin sie auch ging, zog sie eine Spur zerknüllter Seiten nach sich. Bevor Dad starb, hatte sie Ordnung gehalten. Aber jetzt brauchte man, wenn man sie finden wollte, nur den Seiten mit durchgestrichenen Wörtern zu folgen, und am Ende der Spur war sie dann und schaute aus dem Fenster oder in ein Glas Wasser, als sei ein Fisch darin, den nur sie sehen konnte.
17. KAROTTEN
Von meinem Taschengeld kaufte ich mir ein Buch mit dem Titel Essbare Pflanzen und Blüten in Nordamerika . Ich erfuhr, dass Eicheln ihren bitteren Geschmack verlieren, wenn man sie in Wasser kocht, dass Wildrosen essbar sind und dass man alles meiden soll, was nach Mandeln riecht, ein dreiblättriges Wachstumsmuster oder milchigen Saft hat. Ich versuchte, im Prospect Park so viele Pflanzen wie nur möglich zu bestimmen. Weil ich wusste, es würde lange dauern, bis ich in der Lage war, jede Pflanze zu erkennen, und weil immer die Möglichkeit bestand, dass ich irgendwo anders als in Nordamerika würde überleben müssen, prägte ich mir auch den universellen Essbarkeitstest ein. Ihn zu kennen ist eine gute Sache, weil manche giftigen Pflanzen, etwa der Schierling, ähnlich aussehen können wie andere, die essbar sind, etwa wilde Karotten oder Pastinaken. Für den Test darf man erst acht Stunden lang nichts essen. Dann zerlegt man die Pflanze in ihre Bestandteile – Wurzel, Blatt, Stiel, Knospe und Blüte – und testet von jedem ein bisschen auf der Innenseite des Handgelenks. Wenn nichts passiert, drückt man es drei Minuten von innen an die Lippe, und wenn dann nichts passiert, legt man es fünfzehn Minuten auf die Zunge. Wenn immer noch nichts passiert, darf man es kauen, ohne zu schlucken, und behält es fünfzehn Minuten im Mund, und wenn dann nichts passiert, schluckt man es hinunter und wartet acht Stunden ab, und
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