Die Geschichte der Liebe (German Edition)
mein Vater ihr in Peru gekauft hatte. «Wie sehe ich aus?» Sie sah blendend aus, aber irgendwie schien es nicht fair, das Tuch zu tragen. Es blieb keine Zeit, etwas zu sagen, weil Lyle genau in dem Moment schnaufend vor der Tür stand. Er machte es sich auf dem Sofa bequem. Ich fragte ihn, ob er etwas vom Überleben in der Wildnis verstehe, und er sagte: «Absolut.» Ich fragte, ob er wisse, was der Unterschied zwischen Schierling und wilden Karotten sei, worauf er mir einen detaillierten Bericht der finalen Momente einer Oxford-Regatta lieferte, bei der sein Boot in den letzten drei Sekunden davongezogen war und gewonnen hatte. «Heiliger Bimbam», sagte ich in einem Ton, der als sarkastisch zu verstehen war. Lyle wusste auch mit liebevollen Erinnerungen ans Stechkahnfahren auf dem Cherwell zu dienen. Meine Mutter sagte, da müsse sie passen, weil sie nie auf dem Cherwell Stechkahn gefahren sei. Ich dachte: Tja, das wundert mich nicht.
Nachdem die beiden gegangen waren, blieb ich auf und sah mir eine Fernsehsendung über Albatrosse in der Antarktis an: Sie kommen Jahre aus, ohne den Boden zu berühren, schlafen hoch oben im Himmel, trinken Meerwasser, weinen das Salz heraus und kehren Jahr für Jahr zurück, um mit demselben Partner Junge aufzuziehen. Ich muss eingeschlafen sein, denn als ich den Schlüssel meiner Mutter im Schloss hörte, war es fast ein Uhr früh. Ein paar Locken hingen ihr lose am Hals, und ihre Wimperntusche war verschmiert, aber als ich fragte, wie es gewesen sei, sagte sie, sie kenne Orang-Utans, mit denen sie sich angeregter unterhalten könne.
Ungefähr ein Jahr später brach Bird sich das Handgelenk beim Versuch, vom Balkon unseres Nachbarn abzuheben, und der hagere Doktor mit dem krummen Rücken, der ihn in der Notaufnahme behandelte, bat meine Mutter um ein Date. Vielleicht, weil er Bird zum Lächeln brachte, obwohl seine Hand schrecklich schief vom Gelenk abstand, sagte meine Mutter zum zweiten Mal ja, seit mein Vater gestorben war. Der Doktor hieß Henry Lavender, was ich viel versprechend fand (Alma Lavender!). Als es an der Tür klingelte, flitzte Bird, splitternackt bis auf den Gips, die Treppe hinunter, legte «That’s Amore» auf und flitzte wieder nach oben. Meine Mutter, ohne ihr rotes Tuch, schoss hinterher und riss den Tonarm hoch. Die Platte jaulte auf. Doch sie drehte sich geräuschlos auf dem Plattenteller, als Henry Lavender hereinkam, ein Gläschen kühlen Weißwein akzeptierte und uns von seiner Muschelsammlung mit den vielen Erinnerungsstücken erzählte, nach denen er bei seinen Reisen auf die Philippinen selbst getaucht hatte. Ich stellte mir unsere gemeinsame Zukunft vor, wie er uns zu Tauchexpeditionen mitnahm und wir vier uns unter Wasser durch unsere Masken anlächelten. Am nächsten Morgen fragte ich meine Mutter, wie es gewesen sei. Sie sagte, er sei wirklich ein sehr netter Mann. Ich sah darin ein gutes Zeichen, aber als Henry Lavender nachmittags anrief, war meine Mutter im Supermarkt und rief ihn nicht zurück. Zwei Tage später unternahm er einen neuen Versuch. Diesmal ging meine Mutter gerade im Park spazieren. Ich sagte: «Du wirst ihn nicht zurückrufen, stimmt’s?», und sie sagte: «Nein.» Als Henry Lavender zum dritten Mal anrief, war sie in ein Buch mit Erzählungen vertieft, wobei sie wiederholt ausrief, dem Autor sollte postum der Nobelpreis verliehen werden. Meine Mutter verteilt ständig postume Nobelpreise. Ich schlüpfte mit dem Hörer in die Küche. «Dr. Lavender?», sagte ich. Dann erklärte ich ihm, ich sei überzeugt davon, dass meine Mutter ihn wirklich möge, und ein normaler Mensch würde sicher glücklich sein, mit ihm zu reden und sogar wieder einmal mit ihm auszugehen, aber ich würde meine Mutter schon seit elfeinhalb Jahren kennen, und sie habe noch nie etwas Normales getan.
21. ICH GLAUBTE, SIE HABE EINFACH NOCH NICHT DEN RICHTIGEN GETROFFEN
Dass sie den ganzen Tag im Schlafanzug zu Hause saß und Bücher von zumeist toten Leuten übersetzte, schien die Sache auch nicht unbedingt voranzubringen. Manchmal blieb sie stundenlang in einem Satz stecken und lief herum wie ein Hund mit einem Knochen, bis sie plötzlich schrie: «ICH HAB IHN», und an ihren Schreibtisch eilte, um dort ein Loch zu buddeln und ihn zu vergraben. Ich beschloss, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Eines Tages kam ein Veterinär namens Dr. Tucci in meine Klasse, um für den sechsten Jahrgang einen Vortrag zu halten. Er hatte eine schöne Stimme und
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