Die Geschichte der Liebe (German Edition)
lernte auch Spanisch nach einem Buch, das Selbst Spanisch lernen hieß. Sie verbrachte viel Zeit in der Bodleian Library, las Hunderte von Büchern und schloss keine Freundschaften. Sie bestellte so viele Bücher, dass der Mann an der Ausleihe sich immer schon wegduckte, wenn er sie kommen sah. Am Ende des Jahres bestand sie ihre Prüfungen mit Eins, ging trotz der Einwände ihrer Eltern von der Universität ab und fuhr nach Tel Aviv, um dort mit meinem Vater zusammenzuleben.
9. ES FOLGTEN DIE GLÜCKLICHSTEN JAHRE IHRES LEBENS
Sie wohnten in einem sonnigen, mit Bougainvilleen bedeckten Haus in Ramat Gan. Mein Vater pflanzte im Garten einen Oliven- und einen Zitronenbaum und zog um jeden einen kleinen Graben, in dem sich Wasser sammeln konnte. Nachts hörten sie auf seinem Kurzwellenempfänger amerikanische Musik. Wenn die Fenster offen standen und der Wind aus der richtigen Richtung wehte, konnten sie das Meer riechen. Schließlich heirateten sie am Strand von Tel Aviv und machten ihre Hochzeitsreise nach Südamerika, wo sie zwei Monate verbrachten. Als sie zurückkamen, begann meine Mutter, Bücher ins Englische zu übersetzen – erst aus dem Spanischen, später auch aus dem Hebräischen. So vergingen fünf Jahre, dann bekam mein Vater ein Arbeitsangebot, das er nicht ausschlagen konnte, und ging zu einem amerikanischen Unternehmen in die Raumfahrtindustrie.
10. SIE ZOGEN NACH NEW YORK UND BEKAMEN MICH
Während meine Mutter mit mir schwanger war, las sie drei Millionen Bücher über die verschiedensten Themen. Sie mochte Amerika nicht, aber sie hasste es auch nicht. Zweieinhalb Jahre und acht Millionen Bücher später bekam sie Bird. Danach zogen wir nach Brooklyn.
11. ICH WAR SECHS, ALS BEI MEINEM VATER PANKREASKREBS DIAGNOSTIZIERT WURDE
Irgendwann in diesem Jahr fuhr ich mit meiner Mutter im Auto. Sie bat mich, ihr ihre Handtasche zu geben. «Ich habe sie nicht», sagte ich. «Vielleicht ist sie hinten», sagte sie. Aber hinten war sie auch nicht. Sie fuhr an den Rand und durchsuchte das Auto, aber die Handtasche war nirgends zu finden. Sie stützte den Kopf in die Hände und versuchte sich zu erinnern, wo sie ihre Tasche gelassen haben mochte. Ständig verlor sie Sachen. «Eines schönen Tages verliere ich noch den Kopf», sagte sie. Ich stellte mir vor, was passieren würde, wenn sie ihren Kopf verlor. Doch am Ende war es mein Vater, der alles verlor: Körpergewicht, die Haare, mehrere Organe.
12. ER KOCHTE, SANG UND LACHTE GERN, KONNTE MIT DEN HÄNDEN FEUER MACHEN, KAPUTTE SACHEN REPARIEREN UND ERKLÄREN, WIE MAN SACHEN IN DEN WELTRAUM SCHIESST, ABER IN NEUN MONATEN WAR ER TOT
13 . MEIN VATER WAR KEIN BERÜHMTER RUSSISCHER SCHRIFTSTELLER
Zuerst beließ meine Mutter alles genau so, wie er es hinterlassen hatte. Misha Shklovsky zufolge hält man das in Russland mit den Häusern berühmter Schriftsteller so. Aber mein Vater war kein berühmter Schriftsteller. Er war nicht einmal Russe. Dann kam ich eines Tages aus der Schule, und jedes sichtbare Zeichen von ihm war verschwunden. In den Schränken keine Kleidungsstücke mehr von ihm, seine Schuhe nicht mehr an der Tür, und draußen auf der Straße, neben einem Haufen Mülltüten, stand sein alter Sessel. Ich ging nach oben in mein Schlafzimmer und behielt ihn durchs Fenster im Auge. Der Wind ließ Blätter über den Bürgersteig an ihm vorbeiwirbeln. Ein alter Mann kam des Wegs und setzte sich. Ich ging hinaus und fischte den Pullover meines Vaters aus der Mülltonne.
14. AM ENDE DER WELT
Als mein Vater gestorben war, schickte mir Onkel Julian, der Bruder meiner Mutter, der Kunsthistoriker ist und in London lebt, ein Schweizer Armeemesser, von dem er sagte, es habe Dad gehört. Es hatte drei verschiedene Klingen, einen Korkenzieher, eine kleine Schere, eine Pinzette und einen Zahnstocher. In dem Brief, den Onkel Julian mitschickte, schrieb er, Dad habe es ihm einmal geliehen, als er zum Zelten in die Pyrenäen fuhr, und seitdem habe er es ganz vergessen, bis jetzt, und er glaube, es freue mich vielleicht, wenn ich es hätte. Du musst vorsichtig sein , schrieb er, die Klingen sind scharf. Es soll einem helfen, in der Wildnis zu überleben. Ich kenne mich da nicht aus, weil Tante Frances und ich ins Hotel gegangen sind, nachdem uns gleich in der ersten Nacht der Regen erwischt und in eingeweichte Backpflaumen verwandelt hat. Dein Dad war ein viel gewiefterer Naturmensch als ich. Einmal, im Negev, sah ich ihn mit einem Trichter und einer Plane Wasser sammeln.
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