Die Geschichte der Liebe (German Edition)
«DAS IST KEINE WAND», sagte ich. «DAS IST KEINE DECKE.» So ging es weiter. «DRAUßEN REGNET ES NICHT.» – «MEIN SCHNÜRSENKEL IST NICHT OFFEN!», kreischte Bird. Ich deutete auf meinen Ellbogen. «DAS IST KEINE SCHRAMME.» Bird hob sein Knie. «DAS IST AUCH KEINE!» – «DAS IST KEIN KESSEL!» – «KEINE TASSE!» – «KEIN LÖFFEL!» – «DIE TELLER SIND NICHT SCHMUTZIG!» Wir sprachen ganzen Räumen, Jahren, Wetterlagen die Existenz ab. Einmal, auf dem Höhepunkt unseres Geschreis, holte Bird tief Luft. Aus voller Kehle schrie er: «ICH! BIN NICHT! MEIN! GANZES! LEBEN! UNGLÜCKLICH! GEWESEN!» – «Aber du bist doch erst sieben», sagte ich.
3. MEIN BRUDER GLAUBT AN GOTT
Vor drei Jahren, als er neuneinhalb war, fand er einen kleinen roten Band mit dem Titel Das Buch jüdischen Denkens, gewidmet unserem Vater, David Singer, anlässlich seiner Bar-Mizwa. Es enthielt eine Sammlung jüdischer Gedanken mit Kapitelüberschriften wie «Jeder Israelit hält die Ehre seines ganzen Volkes in den Händen», «Unter den Romanows» oder «Unsterblichkeit». Kurz nachdem Bird es gefunden hatte, begann er, eine kippa aus schwarzem Samt zu tragen, die er überallhin aufsetzte, ohne sich darum zu kümmern, dass sie ihm nicht richtig passte und hinten eine Beule schlug, mit der er aussah wie ein Depp. Außerdem schloss er sich Mr. Goldstein an, dem Hausmeister der Hebräischen Schule, der in drei Sprachen vor sich hin murmelte und dessen Hände mehr Staub hinterließen, als sie wegwischten. Es gab Gerüchte, Mr. Goldstein schlafe nur eine Stunde pro Nacht im Keller der schul , er sei in einem Arbeitslager in Sibirien gewesen, sein Herz sei schwach, ein lautes Geräusch könne ihn töten und Schnee bringe ihn zum Weinen. Bird fühlte sich zu ihm hingezogen. Er folgte ihm auf Schritt und Tritt, sobald die Hebräische Schule aus war und Mr. Goldstein zwischen den Stuhlreihen saugte, die Toiletten putzte oder Flüche von der Tafel rieb. Es war auch Mr. Goldsteins Pflicht, die Gebetbücher, die alten siddurim, wenn sie zerfetzt oder zerfleddert waren, zu entsorgen, und eines Nachmittags, unter den Augen zweier Krähen, die groß wie Hunde von den Bäumen spähten, schob er eine ganze Schubkarre voll hinaus, über Steine und Baumwurzeln rumpelnd hinter die Synagoge, grub ein Loch, sprach ein Gebet und begrub sie. «Darf man nicht so wegwerfen», erklärte er Bird. «Nicht mit Gottes Namen drauf. Müssen ordentlich begraben werden.»
In der folgenden Woche begann Bird, die vier hebräischen Buchstaben des Namens, den niemand aussprechen und niemand wegwerfen darf, auf die Blätter seiner Hausaufgaben zu schreiben. Ein paar Tage später öffnete ich den Wäschekorb und fand ihn mit wasserfestem Marker auf die Etiketten seiner Unterwäsche geschrieben. Er schrieb ihn mit Kreide über unsere Haustür, kritzelte ihn quer über sein Klassenfoto, an die Wand im Badezimmer, und bevor es ein Ende nahm, schnitzte er ihn mit meinem Schweizer Armeemesser so hoch er konnte in den Baum vor unserem Haus.
Vielleicht deswegen, vielleicht aber auch wegen seiner Gewohnheit, sich den Arm vors Gesicht zu halten und in der Nase zu bohren, als merkten die Leute nicht, was er da tat, oder weil er manchmal seltsame Videospiel-Geräusche von sich gab – jedenfalls stellten die paar Freunde, die er gehabt hatte, in diesem Jahr ihre Besuche ein und kamen nicht mehr zum Spielen vorbei.
Jeden Morgen wacht er früh auf, um draußen nach Jerusalem gewandt zu davnen. Wenn ich ihn vom Fenster aus beobachte, bereue ich, ihm die Aussprache der hebräischen Buchstaben beigebracht zu haben, als er erst fünf war. Es macht mich traurig, weil ich weiß, dass es so nicht weitergeht.
4. MEIN VATER STARB, ALS ICH SIEBEN WAR
Was ich erinnere, sind Bruchstücke. Seine Ohren. Die verschrumpelte Haut an seinen Ellbogen. Die Geschichten, die er mir von seiner Kindheit in Israel erzählte. Wie er in seinem Lieblingssessel saß und Musik hörte und wie gern er sang. Er sprach Hebräisch mit mir, und ich nannte ihn Abba . Ich habe fast alles vergessen, aber manchmal fallen mir Wörter wieder ein, kum-kum, schemesch, chol, jam, ejtz, nischika, motek, ihre Bedeutung abgerieben wie die Motive auf alten Münzen. Meine Mutter, die Engländerin ist, hatte ihn im Sommer, ehe sie in Oxford zu studieren anfing, während eines Arbeitsaufenthalts in einem Kibbuz bei Ashdod kennen gelernt. Er war zehn Jahre älter als sie. Er war beim Militär gewesen und danach durch
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