Die Geschichte der Liebe (German Edition)
wenn dann nichts passiert, isst man ein Viertel von dem, was in eine Tasse passt, und wenn dann nichts passiert, ist es essbar.
Ich bewahrte Essbare Pflanzen und Blüten in Nordamerika unter meinem Bett in einem Rucksack auf, der auch das Schweizer Armeemesser meines Vaters, eine Taschenlampe, eine Plastikplane, einen Kompass, eine Schachtel Granola-Riegel, zwei Tüten Erdnuss-M&Ms, drei Büchsen Thunfisch, einen Dosenöffner, Heftpflaster, ein Erste-Hilfe-Set gegen Schlangenbisse, Unterwäsche zum Wechseln und einen U-Bahn-Plan von New York City enthielt. Eigentlich hätte ein Stück Feuerstein hineingehört, aber als ich im Eisenwarenladen eins kaufen wollte, haben sie mir keins verkauft, entweder weil ich zu jung war oder weil sie mich für eine Pyromanin hielten. Im Notfall geht das Funkenschlagen auch mit einem Jagdmesser und einem Stück Jaspis, Achat oder Jade, aber ich wusste nicht, wo ich Jaspis, Achat oder Jade herbekommen sollte. Zum Ersatz nahm ich ein paar Streichhölzer aus dem2 nd Street Café und tat sie in ein Täschchen mit Reißverschluss, zum Schutz gegen den Regen.
Zu Chanukka wünschte ich mir einen Schlafsack. Der, den meine Mutter mir besorgte, war aus Flanell, mit rosa Herzen drauf, und hätte mich bei Minustemperaturen ungefähr fünf Sekunden lang am Leben erhalten, ehe ich den Kältetod gestorben wäre. Ich fragte sie, ob wir ihn zurückbringen und gegen einen schweren Daunenschlafsack tauschen könnten. «Was denkst du, wo du damit schlafen willst, am nördlichen Polarkreis?», fragte sie. Ich dachte: Dort oder vielleicht in den peruanischen Anden, wo Dad mal gezeltet hat. Um das Thema zu wechseln, erzählte ich ihr von Schierling, wilden Karotten und Pastinaken, aber das war offenbar keine gute Idee, denn ihre Augen wurden feucht, und als ich sie fragte, was los sei, sagte sie, nichts, sie habe nur an die Karotten denken müssen, die Dad in Ramat Gan immer im Garten zog. Ich hätte sie gern gefragt, was er sonst noch gezogen habe außer dem Olivenbaum, dem Zitronenbaum und den Karotten, wollte sie aber nicht noch trauriger machen.
Ich legte mir ein Notizbuch an: Wie man in der Wildnis überlebt.
18. MEINE MUTTER LIESS IHRE LIEBE ZU MEINEM VATER NIE STERBEN
Sie erhielt sie so lebendig wie im Sommer ihrer ersten Begegnung. Dafür hat sie das Leben eingestellt. Manchmal ernährt sie sich tagelang von Wasser und Luft. Dafür, dass sie die einzige bekannte komplexe Lebensform dieser Art ist, müsste eine Spezies nach ihr benannt werden. Onkel Julian hat mir einmal von dem Bildhauer und Maler Alberto Giacometti erzählt, der gesagt habe, manchmal müsse man, nur um einen Kopf zu malen, die ganze Gestalt aufgeben. Für ein Blatt Laub müsse man die ganze Landschaft opfern. Zuerst möge das nach Selbstbeschränkung aussehen, aber nach einer Weile werde einem bewusst, dass ein bestimmtes Gefühl in Bezug auf das Universum leichter festzuhalten sei, wenn man nur einen Quadratzentimeter nehme, anstatt den ganzen Himmel erfassen zu wollen.
Meine Mutter wählte weder das Blatt noch den Kopf. Sie hatte meinen Vater auserwählt, und für ein bestimmtes Gefühl opferte sie die ganze Welt.
19. DIE WAND AUS WÖRTERBÜCHERN ZWISCHEN MEINER MUTTER UND DER WELT WIRD JEDES JAHR HÖHER
Manchmal lösen sich Seiten aus den Wörterbüchern und sammeln sich zu ihren Füßen, Schallwort, Schalm, Schalmei, schalmen, Schalobst, Schalom, Schalotte, schalt , wie die Blütenblätter einer riesengroßen Blume. Als ich klein war, glaubte ich, die Seiten auf dem Boden seien Wörter, die sie nie mehr benutzen könnte, und ich versuchte, sie dort wieder einzukleben, wo sie hingehörten, vor lauter Angst, sie würde eines Tages verstummen.
20. MEINE MUTTER IST NUR ZWEIMAL MIT MÄNNERN AUSGEGANGEN, SEIT MEIN VATER STARB
Das erste Mal vor fünf Jahren, als ich zehn war, mit einem dicken englischen Lektor aus einem Verlag, für den sie übersetzt. Am linken kleinen Finger trug er einen Ring mit einem Familienwappen, vielleicht sein eigenes, vielleicht auch nicht. Immer wenn er von sich selber sprach, wedelte er mit dieser Hand. Bei einer Unterhaltung war herausgekommen, dass meine Mutter und er, Lyle, zur gleichen Zeit in Oxford gewesen waren. Unter dem Eindruck dieser Fügung hatte er sie eingeladen auszugehen. Viele Männer haben meine Mutter eingeladen, aber sie sagte immer nein. Aus irgendeinem Grund willigte sie diesmal ein. Am Samstagabend erschien sie mit hochgestecktem Haar im Wohnzimmer, sie trug das rote Tuch, das
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