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Die Geschichte der Liebe (German Edition)

Die Geschichte der Liebe (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Liebe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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Südamerika gereist. Dann ging er wieder zur Schule und wurde Ingenieur. Er zeltete gern und hatte immer einen Schlafsack und zwei Kanister Wasser im Kofferraum, und wenn nötig, konnte er mit einem Flintstein Feuer machen. Er holte meine Mutter freitagabends ab, während die anderen Kibbuzniks auf Decken im Gras lagen, Hunde streichelten und schwatzten. Er fuhr mit ihr zum Toten Meer, auf dem sie seltsam schräge trieben.
    5. DAS TOTE MEER IST DER TIEFSTE PUNKT AUF ERDEN
    6. KEINE ZWEI MENSCHEN SAHEN EINANDER SO UNÄHNLICH WIE MEINE MUTTER UND MEIN VATER
Als der Körper meiner Mutter bräunte und mein Vater lachend sagte, sie sehe ihm von Tag zu Tag ähnlicher, war das ein Witz, denn er war eins einundneunzig, mit strahlenden grünen Augen und schwarzem Haar, während meine Mutter blass ist und so klein, dass man sie noch heute, mit einundvierzig, von der anderen Straßenseite aus für ein Mädchen halten könnte. Bird ist klein und blond wie sie, ich bin groß gewachsen wie mein Vater. Außerdem bin ich schwarzhaarig, zahnlückig, abscheulich mager und fünfzehn Jahre alt.
    7 . ES GIBT EIN FOTO VON MEINER MUTTER, DAS NIEMAND JE GESEHEN HAT
Im Herbst ging meine Mutter zum Studieren nach England zurück. Ihre Taschen waren voller Sand vom tiefsten Punkt auf Erden. Sie wog 104 Pfund. Manchmal erzählt sie eine Geschichte über die Zugfahrt vom Bahnhof Paddington nach Oxford, auf der sie einen fast vollständig erblindeten Fotografen traf. Er trug eine dunkle Sonnenbrille und sagte, er habe sich vor zehn Jahren bei einer Antarktis-Reise die Netzhaut verletzt. Sein Anzug war tadellos gebügelt, und er hielt seine Kamera auf dem Schoß. Er sagte, er sehe die Welt jetzt anders, und das sei nicht unbedingt schlecht. Er fragte, ob er ein Bild von ihr machen dürfe. Als er die Kamera hob und durch die Linse sah, fragte meine Mutter, was er sehe. «Dasselbe, was ich immer sehe», sagte er. «Das heißt?» – «Einen Schleier», sagte er. «Warum dann das Foto?», fragte sie. «Für den Fall, dass meine Augen wieder gesund werden», sagte er. «Damit ich dann weiß, was ich gesehen habe.» Auf dem Schoß meiner Mutter lag eine braune Papiertüte, darin ein Brot mit gehackter Leber, das meine Großmutter ihr geschmiert hatte. Sie bot es dem fast vollständig erblindeten Fotografen an. «Sind Sie nicht hungrig?», fragte er. Sie sagte, doch, aber sie habe ihrer Mutter nie gesagt, dass sie gehackte Leber hasse, und nachdem sie jahrelang nichts gesagt habe, sei es schließlich zu spät dafür gewesen. Der Zug fuhr in Oxford ein, und meine Mutter stieg aus, eine Sandspur hinter sich zurücklassend. Ich weiß, die Geschichte hat eine Moral, aber ich weiß nicht welche.
    8 . MEINE MUTTER IST DER STURSTE MENSCH, DEN ICH KENNE
Nach fünf Minuten war ihr klar, dass sie Oxford hasste. In der ersten Semesterwoche tat sie gar nichts, hockte nur in ihrem Zimmer in einem zugigen Steingebäude, sah den Regen auf die Kühe auf der Christ Church Meadow fallen und bemitleidete sich. Sie musste ihr Teewasser auf einer Kochplatte erhitzen. Wenn sie ihren Tutor sprechen wollte, musste sie sechsundfünfzig Steinstufen hinauf und an die Tür hämmern, bis er aufwachte und sich von dem Feldbett in seinem Arbeitszimmer erhob, auf dem er unter einem Stapel Klausuren schlief. Sie schrieb meinem Vater in Israel fast jeden Tag auf teurem französischem Briefpapier, und als das alle war, nahm sie aus einem Notizbuch gerissenes Millimeterpapier. In einem dieser Briefe (die ich in einer alten Cadbury-Dose versteckt unter dem Sofa in ihrem Arbeitszimmer fand) schrieb sie: Das Buch, das du mir geschenkt hast, liegt auf meinem Tisch, und ich lerne es jeden Tag etwas besser lesen. Lesen lernen musste sie es, weil es auf Spanisch geschrieben war. Sie sah im Spiegel zu, wie ihr Körper wieder blass wurde. In der zweiten Semesterwoche kaufte sie sich ein gebrauchtes Fahrrad, mit dem sie herumfuhr und Zettel anpinnte, auf denen stand: SUCHE HEBRÄISCHLEHRER, weil Sprachen ihr leicht fielen und sie meinen Vater verstehen wollte. Einige bewarben sich, aber nur einer kniff nicht, als meine Mutter erklärte, sie könne nichts bezahlen, ein pickliger Junge namens Nehemia, aus Haifa stammend, im ersten Studienjahr wie sie und genauso niedergeschlagen. Er fand – so stand es jedenfalls in einem Brief an meinen Vater –, die Gesellschaft eines Mädchens sei Grund genug, sich für nichts als ein bezahltes Bier zweimal die Woche im King’s Arms zu treffen. Meine Mutter

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