Die Geschichte der Liebe (German Edition)
alle Ewigkeit im Mittelmeer verloren.
Außer der Jacke und der Pilotenkappe schenkte meine Mutter mir noch ein Buch von jemandem namens Daniel Eldridge, der, wie sie meinte, einen Nobelpreis verdient hätte, wenn es einen für Paläontologen gäbe. «Ist er tot?», fragte ich. «Warum fragst du?» – «Nur so», sagte ich. Bird fragte, was ein Paläontologe sei, und Mom sagte, wenn er einen vollständigen, illustrierten Führer durch das Metropolitan Museum of Art nähme, ihn in hundert Schnipsel risse, sie von den Stufen des Museums aus in den Wind streute und ein paar Wochen vergehen ließe, dann zurückkäme und die Fifth Avenue und den Central Park nach jedem Schnipsel, der überdauert hätte, absuchte und sich schließlich die Arbeit machte, aus diesen Schnipseln die Geschichte der Malerei inklusive Schulen, Stilrichtungen, Genres und Namen der Maler zu rekonstruieren, dann wäre das wie Paläontologe sein. Mit dem einzigen Unterschied, dass Paläontologen Fossilien untersuchten, um den Ursprung und die Entwicklungsgeschichte des Lebens zu begreifen. Jede Vierzehnjährige sollte etwas darüber wissen, wo sie herkommt, sagte meine Mutter. Es reiche nicht, durch die Gegend zu spazieren, ohne die leiseste Ahnung, wie alles begonnen habe. Dann sagte sie sehr schnell, als wäre es nicht das Wichtigste von allem, das Buch habe Dad gehört. Bird lief hin und berührte den Umschlag.
Es hieß Das Leben, wie wir es nicht kennen . Auf der Rückseite war eine Abbildung von Eldridge. Er hatte dunkle Augen mit dichten Wimpern und einen Bart, und er hielt das Fossil eines gruselig aussehenden Fisches hoch. Darunter stand, er sei Professor an der Columbia. Am selben Abend fing ich an zu lesen. Ich dachte, Dad hätte vielleicht ein paar Bemerkungen an den Rand geschrieben. Hatte er aber nicht. Das einzige Zeichen von ihm war sein Name auf dem Deckblatt. Das Buch handelte davon, wie Eldridge und ein paar andere Wissenschaftler sich in einem Unterseeboot auf den Meeresgrund herabgelassen und an den Grenzen tektonischer Platten Hydrothermalquellen entdeckt hatten, die mineralreiche, bis 330 Grad heiße Gase ausstießen. Bis dahin hatten die Wissenschaftler geglaubt, der Tiefseeboden sei eine Ödnis, wo es kaum oder gar kein Leben gebe. Aber was Eldridge und seine Kollegen in den Scheinwerfern ihres Unterseeboots sahen, waren Hunderte von Organismen, die nie zuvor ein menschliches Auge erblickt hatte – ein ganzes Ökosystem, das sie als sehr, sehr alt erkannten. Sie nannten es die dunkle Biosphäre. Es gab jede Menge Hydrothermalquellen da unten, und schon bald fanden sie heraus, dass auf dem Gestein rund um die Quellen Mikroorganismen bei Temperaturen lebten, die Blei zum Schmelzen bringen konnten. Als sie einige davon an die Oberfläche brachten, rochen sie nach faulen Eiern. Es wurde klar, dass sich diese fremden Organismen von dem Schwefelwasserstoff, den die Quellen freisetzen, ernähren und auf die gleiche Weise Schwefel ausatmen wie Pflanzen an Land den Sauerstoff. Eldridges Buch zufolge hatten sie nichts Geringeres entdeckt als ein Fenster zu den chemischen Pfaden, die vor Milliarden von Jahren zu den Anfängen der Evolution führten.
Die Idee der Evolution ist so wunderbar und traurig. Seit dem ersten Leben auf Erden gab es eine unerhörte Zahl, zwischen fünf und fünfzig Milliarden Arten, von denen nur fünf bis fünfzig Millionen heute noch am Leben sind. Neunundneunzig Prozent aller Arten, die je auf Erden gelebt haben, sind somit ausgestorben.
25. MEIN BRUDER, DER MESSIAS
An jenem Abend, während ich las, kam Bird in mein Zimmer und kletterte zu mir ins Bett. Er war klein für seine elfeinhalb Jahre. Er drückte seine kalten Füßchen an mein Bein. «Erzähl mir was über Dad», flüsterte er. «Du hast vergessen, dir die Fußnägel zu schneiden», sagte ich. Er grub mir die Ballen in die Wade. «Bitte?», bettelte er. Ich überlegte, und weil mir nichts einfiel, was ich ihm nicht schon hundertmal erzählt hatte, dachte ich mir etwas aus. «Er kletterte gern», sagte ich. «Er war ein guter Kletterer. Einmal erklomm er eine Felswand, die war, na, an die sechzig Meter hoch. Irgendwo im Negev, glaube ich.» Bird atmete seinen heißen Atem auf meinen Hals. «Masada?», fragte er. «Kann sein», sagte ich. «Er mochte es einfach. Es war ein Hobby», sagte ich. «Tanzte er gern?», fragte Bird. Ich hatte keine Ahnung, ob er gern getanzt hatte, aber ich sagte: «Und wie. Er konnte sogar Tango. Den hat er in Buenos Aires
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