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Die Geschichte der Liebe (German Edition)

Die Geschichte der Liebe (German Edition)

Titel: Die Geschichte der Liebe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Krauss
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und in den Jahren nach dem Ende meines Lebens wurde ich berühmt. Und doch.
    Ich nahm die Zeitung und schnitt das Foto meines Isaacs aus. Es war zerknittert, aber ich strich es glatt. Ich steckte es in meine Geldbörse, in den Klarsichtteil, der für Fotos da ist. Ich machte ein paarmal den Klettverschluss auf und zu, um mir sein Gesicht anzusehen. Dann bemerkte ich, dass unten, wo ich geschnitten hatte, stand: Die Trauerfeier findet – den Rest konnte ich nicht lesen. Ich musste das Foto herausnehmen und die beiden Teile wieder zusammenfügen. Die Trauerfeier findet Samstag, den 7. Oktober, um 10 Uhr in der Alten Synagoge statt.
    Es war Freitag. Ich wusste, ich sollte nicht drin bleiben, also zwang ich mich rauszugehen. Die Luft fühlte sich anders an in meinen Lungen. Die Welt sah nicht mehr aus wie sonst. Man wandelt und verwandelt sich. Man wird ein Hund, ein Vogel, eine stur nach links geneigte Pflanze. Erst jetzt, da mein Sohn fort war, wurde mir bewusst, wie sehr ich für ihn gelebt hatte. Wenn ich morgens aufwachte, so, weil es ihn gab, und wenn ich Essen bestellte, so, weil es ihn gab, und wenn ich mein Buch schrieb, so, weil es ihn gab, es zu lesen.
    Ich nahm den Bus stadtaufwärts. Ich sagte mir, mit dem zerknitterten schmatta , den ich einen Anzug nenne, könne ich nicht zur Beerdigung meines eigenen Sohnes gehen. Ich wollte ihm nicht peinlich sein. Ja mehr noch, ich wollte ihn stolz machen. An der Madison Avenue stieg ich aus und ging los, immer an den Schaufenstern entlang. Das Taschentuch lag kalt und nass in meiner Hand. Ich wusste nicht, in welches Geschäft ich sollte. Schließlich nahm ich das erstbeste, das nett aussah. Ich befingerte das Material eines Jacketts. Ein riesiger schwartzer in einem glänzenden beigefarbenen Anzug und Cowboystiefeln näherte sich. Ich dachte, er würde mich rauswerfen. Ich fühle nur den Stoff an , sagte ich. Wollen Sie den nicht mal anprobieren? , fragte er. Ich fühlte mich geschmeichelt. Er fragte nach meiner Größe. Ich kannte sie nicht. Aber er schien zu verstehen. Er warf einen Blick auf mich, begleitete mich zu einer Umkleidekabine und hängte den Anzug an den Haken. Ich legte meine Kleidung ab. Es gab drei Spiegel. Ich war dem Anblick von Körperteilen ausgesetzt, die ich seit Jahren nicht gesehen hatte. Trotz meines Kummers gönnte ich mir einen Moment, sie zu inspizieren. Dann zog ich den Anzug an. Die Hose war steif und eng, die Jacke reichte mir praktisch bis zu den Knien. Ich sah aus wie ein Clown. Mit einem Lächeln zog der schwartzer den Vorhang auf. Er stellte mich gerade hin, knöpfte mich zu und drehte mich herum. Wir sahen beide in den Spiegel. Passt wie angegossen , verkündete er. Wenn Sie möchten, sagte er, im Rücken etwas Stoff zusammenraffend, könnten wir hier eine Kleinigkeit abnehmen. Aber nötig haben Sie das nicht. Sieht aus wie für Sie geschaffen. Ich dachte: Was verstehe ich schon von der Mode? Ich fragte nach dem Preis. Er fasste mir hinten in die Hose und fummelte an meinen tuchas herum. Dieser hier macht … tausend , verkündete er. Ich sah ihn an. Tausend was? , sagte ich. Er lachte höflich. Wir standen vor den drei Spiegeln. Ich faltete und faltete mein nasses Taschentuch zusammen. Mit einem letzten Rest Haltung zog ich mir die zwischen den Backen eingeklemmte Unterhose hoch. Dafür sollte es ein Wort geben. Die einsaitige Harfe.
    Draußen auf der Straße ging ich weiter. Ich wusste, auf den Anzug kam es nicht an. Aber: Ich musste etwas tun. Um Halt zu finden.
    An der Lexington war ein Laden, der Passfotos anbot. Manchmal mache ich welche. Ich bewahre sie in einem kleinen Album auf. Die meisten sind von mir selbst, außer einem, das von Isaac ist, mit fünf Jahren, und einem anderen von meinem Cousin, dem Schlosser. Er war Amateurfotograf, und eines Tages zeigte er mir, wie man eine Lochkamera baut. Das war im Frühjahr 1947. Ich saß hinten in seinem winzigen Laden und sah zu, wie er Fotopapier in dem Kasten befestigte. Er sagte, ich solle still halten, und leuchtete mir mit einer Lampe ins Gesicht. Dann entfernte er den Deckel von dem Loch. Ich saß so still, dass ich kaum noch atmete. Als das Foto fertig war, gingen wir in die Dunkelkammer und tunkten es ins Entwicklerbad. Wir warteten. Nichts. Wo ich hätte sein sollen, war nur verkratztes Grau. Mein Cousin bestand darauf, es noch einmal zu machen, also machten wir es noch einmal und noch einmal. Nichts. Dreimal versuchte er, mit der Lochkamera ein Bild von mir

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